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In Bestform: »Muskeln sind das männlichste aller Attribute«

Die Muskelsucht betrifft vor allem Männer. Was dahintersteckt, erklärt der Psychologe Roland Müller im Interview: »Viele Betroffene sind in ihrem Selbstverständnis verunsichert.«
Äußerst muskulöser Mann trainiert seine Arme am Gerät

Muskeln gelten als männlich, attraktiv und sexy. Kein Wunder also, dass die Muskelsucht, auch Muskeldysmorphie genannt, hauptsächlich unter Männern verbreitet ist. Viele von ihnen glauben, dass Frauen auf Muskeln stehen. Aber ist das wirklich so? Und was tun, wenn das Training zur Sucht wird? Der Schweizer Psychologe Roland Müller vom Universitätsspital in Bern arbeitet mit Betroffenen und erklärt, was sich dahinter verbirgt.

»Spektrum.de«: Warum finden wir Muskeln schön, Herr Müller?

Roland Müller | Der Schweizer ist Fachpsychologe für Psychotherapie und Projektleiter im Verein Fachstelle »Prävention Essstörungen Praxisnah« (PEP) am Berner Inselspital.

Roland Müller: Dahinter steckt ein Konglomerat aus kulturellen Faktoren und Marketing. In der griechischen Klassik entstand ein bestimmtes Schönheitsideal, und auch in der nordischen Mythologie waren die Götter sehr stark und muskulös. Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts hat sich das Männerbild vor allem in der westlichen Zivilisation weiter auf Muskeln fokussiert. Diverse Autoren bringen das mit der zunehmenden Gleichstellung der Frau in Verbindung: Sie führt dazu, dass sich der Mann nicht mehr einfach auf sein Mannsein verlassen kann. Er sucht nach etwas, das ihn als Mann besonders auszeichnet. Und Muskeln sind das männlichste aller Attribute: Auf Grund ihres höheren Testosteronspiegels können Männer mehr und leichter Muskelmasse aufbauen. Seit Mitte der 1980er Jahre wird der Trend auch noch durch Werbung befeuert.

Inwiefern?

Die Werbung suggeriert Männern, sie müssten etwas unternehmen, um muskulöser zu werden oder zu wirken: sich in einem Fitnessstudio anmelden, ein bestimmtes Produkt kaufen und Kleidung tragen, die die Muskeln betont. In den sozialen Medien bekommen Bodybuilder und Fitnessinfluencer in der Regel Geld für Fotos mit Produktplatzierungen, sie werden von Firmen gesponsort.

Gilt der Trend zu mehr Muskeln weltweit?

Studien legen nahe, dass das Muskelideal ein Stück weit mit dem Steroidgebrauch in einem Land zusammenhängt. Daran kann man ablesen: Im Norden herrscht das Ideal eher vor als etwa im Mittelmeerraum. Im asiatischen Raum ist es nicht so ausgeprägt: Hier gilt ein schlanker, athletischer Körper als ideal. Das geht vor allem auf die Kung-Fu- und Samurai-Tradition zurück. Der asiatische Raum hinkt deshalb noch hinterher, holt aber langsam auf.

»Frauen bevorzugen einen eher normalen männlichen Körper«

Sind Muskeln nicht auch Geschmackssache? Schließlich stehen nicht alle Frauen auf Muskelprotze.

Zu dieser Frage hat der US-amerikanische Psychiater Harrison Pope bereits vor 20 Jahren Studien durchgeführt. Er hat zum Beispiel 200 junge Männer aus drei verschiedenen Ländern befragt. Dabei kam heraus: Der Körper, von dem die Männer dachten, dass Frauen ihn attraktiv finden, enthält etwa 14 Kilogramm mehr Muskeln als der, der den Frauen tatsächlich gefiel. Demnach bevorzugen Frauen einen eher normalen männlichen Körper.

Also ist alles nur ein Riesenmissverständnis?

Vielleicht. Aber das ist wie gesagt 20 Jahre her. Ob wir wollen oder nicht, durch Social Media und Co sind wir ständig mit Bildern muskulöser Körper konfrontiert. Das verändert die Wahrnehmung und die Denkmuster bei Männern wie Frauen. Mittlerweile scheint es in der Gesellschaft unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung eine starke Norm zu geben, die sowohl die eigene Wahrnehmung als auch die Vorlieben beeinflusst.

Wie lässt sich Muskelkater vermeiden? Wie viel sollten Sportler trinken? Diesen und weiteren Fragen widmet sich die Biochemikerin Annika Röcker in ihrer Kolumne »In Bestform«. Mit Expertinnen und Experten aus der Sportmedizin diskutiert sie, was beim Sport im Körper vorgeht und wie ein gesundes Training aussieht.

Bedeutet das, die Frauen wollen nun selbst auch muskulöser werden?

Ja. Das weibliche Schönheitsideal ist zwar nach wie vor schlankheitsorientiert. Aber mittlerweile wollen die Frauen nicht nur schlanke, sondern auch definierte Körper haben.

Der Wunsch nach mehr Muskeln kann regelrecht süchtig machen. Das betrifft aber eher Männer, oder?

Ja. Auf zehn Männer, die von Muskeldysmorphie – umgangssprachlich: Fitness- und Muskelsucht – betroffen sind, kommt etwa eine Frau. Klassische Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie sind hingegen bei Frauen häufiger.

»Es geht bei der Muskel- und Fitnesssucht vor allem um das Optische: den vermeintlich perfekt aussehenden Körper«

Gilt Muskelsucht denn als Essstörung?

Nein. Laut den gängigen Klassifikationssystemen für psychische Störungen wird die Muskeldysmorphie den Zwangsstörungen zugeordnet, genauer gesagt den körperdysmorphen Störungen. Während Menschen mit einer klassischen Essstörung denken, sie seien zu dick und müssten abnehmen, ist es bei den Fitness- und Muskelsüchtigen genau umgekehrt. Sie fühlen sich zu dünn, zu wenig definiert und wollen massiger werden. Allen gemein ist also eine gewisse Wahrnehmungsverzerrung. Bei der Muskeldysmorphie geht es aber weniger ums Essen als um ein ständiges Bodychecking. Die Betroffenen haben einen sehr rigiden, zwanghaften Lebensstil.

Wo liegt der Unterschied zur Sportsucht?

Die Motive und Muster können sich überlappen, müssen es aber nicht. Während es bei der Sportsucht vor allem um Leistung, das Erreichen bestimmter Zahlen und Zeiten geht, geht es bei der Muskel- und Fitnesssucht in erster Linie um das Optische: den vermeintlich perfekt aussehenden Körper.

Warum brauchen die Menschen denn so viele Muskeln?

Zahlreiche betroffene Männer sind in ihrem Selbstverständnis verunsichert. Wenn sie ihrem Ideal eines trainierten, muskulösen Mannes näherkommen, beschert ihnen das kurzzeitig ein Gefühl der Kontrolle und ein besseres Selbstwertgefühl. Doch im Kopf ist gespeichert: Ich bin nicht schön, definiert oder muskulös genug. Deshalb ist das positive Gefühl nicht von Dauer. Auch wenn jemand sehr muskulös ist, sagt seine innere, automatische Bewertung immer noch: Es reicht nicht.

Wie äußert sich das im sozialen Umfeld?

Häufig schämen sich Betroffene für ihren Körper. Weil sie sich für zu schmächtig halten, tragen sie dicke Pullover, gehen nie ins Freibad oder in die Sauna und entkleiden sich auch vor ihrem Partner oder ihrer Partnerin nicht. Und weil sie mit ihrem Lebensstil immer mehr anecken, ziehen sie sich oft allgemein zurück. Das beeinträchtigt ihre Lebensqualität.

»Das exzessive Training belastet den Körper, insbesondere die Gelenke«

Wann wird das krankhaft oder gefährlich?

Eine Grenze zu ziehen, ist sehr schwierig. Es gibt zwar Diagnosekriterien, die sich beispielsweise mit Hilfe spezieller Fragebögen ermitteln lassen. Aber man muss eigentlich jede Person individuell betrachten. Das höchste Risiko besteht sicherlich, wenn jemand zu Medikamenten, sprich Anabolika greift. Eine falsche und unkontrollierte Dosierung kann Leber- und Nierenschäden hervorrufen, einen plötzlichen Herztod, aber auch Stimmungsveränderungen bis hin zu akuter Suizidalität. Bei Menschen, die vorbelastet sind, steigt das Risiko für Psychosen. Natürlich kann es auch ohne Steroide zu Problemen kommen. Um Masse aufzubauen, essen Betroffene oft besonders viel und eiweißreich. Das strapaziert den Verdauungstrakt, die Nieren und die Leber. Das exzessive Training belastet den Körper, insbesondere die Gelenke. Wer keine oder unzureichende Pausen macht, droht ins Übertraining zu rutschen: Die Pausen reichen dann nicht mehr, um sich zu regenerieren.

Es gibt aber keinen körperlichen Grenzwert, bei dem man sagen würde: Ab jetzt wird es gefährlich?

Es gibt den so genannten Fat-Free Mass Index. Er zeigt an, wie muskulös jemand ist. Männer erreichen im Mittel Werte um die 20. Liegt jemand über 25, konsumiert er höchstwahrscheinlich Steroide. Zwar ist dieser Wert nicht direkt ein Indikator für körperliche Risiken. Klar ist aber: Wer über lange Zeit einen sehr hohen Muskel- und damit einen sehr niedrigen Körperfettanteil hat, bekommt körperliche Probleme.

Welcher Art?

Bei Frauen setzt die Periode aus, und auch Männer leiden unter einem Hormonmangel. Man spricht von Hypogonadismus. Die Signalübermittlung zwischen dem Gehirn und den Hormondrüsen des Körpers ist gestört. Außerdem stellt das Fettgewebe eines gesunden Körpers selbst Hormone her, wie ein eigenes Organ. Wer sehr wenig Körperfett hat, dem fehlt es daran. Das kann unter anderem zu Unfruchtbarkeit und Osteoporose führen.

Wie viele Menschen sind in Deutschland von Muskeldysmorphie betroffen?

Im Jahr 2006 hat der Deutsche Sportbund eine Umfrage in fünf Städten durchgeführt. Dabei kam heraus: Etwa 20 Prozent der Männer, die ins Fitnessstudio gehen, haben in diesem Bereich ein Problem, das bei ihnen einen enormen psychischen Leidensdruck auslöst. Das habe ich als Faustregel übernommen. Aus Australien, den USA oder auch Italien gibt es ganz unterschiedliche Zahlen, der Anteil der Betroffenen liegt dort im Promille- bis hochstelligen Prozentbereich.

Sie sprechen jetzt aber ausschließlich von Fitnessstudios?

Genau. Es kommt natürlich immer darauf an, welche Population wir uns anschauen. Im Fitnessstudio halten sich ja gerade die Menschen auf, die anfällig dafür sind. In der allgemeinen Bevölkerung sieht das etwas anders aus. Allerdings fehlen bis heute aussagekräftige Daten; sie variieren stark und beziehen sich meist nur auf Bodybuilder und Fitnessathleten.

Was mache ich, wenn ich merke, dass ich unter Muskelsucht leide?

Den wichtigsten Schritt haben Sie damit bereits getan: sich das Problem einzugestehen. Dann sollten Sie zunächst selbst versuchen, Ihr Verhalten zu normalisieren. Auf unserer Homepage haben wir in einem kleinen Leitfaden verschiedene Selbsthilfemaßnahmen aufgelistet. Dazu gehört beispielsweise, Nahrungsmittel in den Speiseplan einzubauen, die man sich verboten hat, weil sie nicht optimal für die Fitnessroutine sind. Außerdem: mal nicht zu trainieren, sondern soziale Kontakte zu pflegen. Einen guten Freund oder eine Freundin einzuweihen, ist oft hilfreich. Er oder sie kann eine gewisse Kontrollfunktion übernehmen und Gespräche anbieten. Hilft das alles nicht, empfehle ich, zu einem Therapeuten oder einer Therapeutin zu gehen.

Von Sportler zu Sportlern

Roland Müller trainiert selbst regelmäßig im Fitnessstudio und hat eine Ausbildung zum Fitnesstrainer gemacht. Das helfe, mit Betroffenen in Kontakt zu treten und ihr Vertrauen zu gewinnen, sagt der Psychologe.

Kennt sich denn jeder Psychotherapeut und jede Psychotherapeutin mit Fitness- und Muskelsucht aus?

Nicht alle, aber immer mehr. Als ich vor zehn Jahren die ersten Referate über Muskeldysmorphie gehalten habe, hatten die meisten Fachleute in der Psychiatrie und Psychotherapie noch keine Ahnung, dass es das überhaupt gibt. Es hieß: Das ist halt ein Mann, der hat doch kein Problem. Das Thema wird in der Psychiatrie aber immer präsenter, es werden immer mehr Fortbildungen und Vorlesungen dazu angeboten. Wenn man in einer größeren Stadt in eine Psychotherapieambulanz oder eine auf Essstörungen spezialisierte Ambulanz geht, weiß das Team sicher, was zu tun ist. Und wer als Psychologe oder Psychologin in diesem Bereich arbeitet, sollte auch ein Stück weit wissen, wie es in Fitnessstudios zugeht, vielleicht sogar mit ihnen zusammenarbeiten.

Warum?

Weil man so die Zielgruppe viel besser erreicht. Aufklärungskampagnen, die ganz allgemein vor zu viel Training warnen, funktionieren schlecht. Man muss gezielt Signale setzen, zum Beispiel im Fitnessstudio einen Zettel an den Spiegel hängen, mit einem Link zu einer Homepage, die über Fitness- und Muskelsucht informiert. Der ein oder andere merkt dann vielleicht: Hey, ich hab' da wirklich ein Problem. Und wenn das Fitnessstudio mitmacht, kann man vielleicht noch eine niederschwellige kostenlose Beratung anbieten. So kann man das Eis brechen.

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