Freistetters Formelwelt: Nichts ist so stetig wie die Stetigkeit
Es gibt gewisse Dinge, die trotz des ständigen Wandels immer gleich bleiben. Ich zum Beispiel habe mein Studium der Astronomie schon vor 23 Jahren begonnen. Mittlerweile hat sich viel geändert, die Studienpläne und der Ablauf des Studiums sind heute ganz anders als damals. Aber manches bleibt zwangsläufig bestehen. Vor einiger Zeit habe ich nach einem Vortrag zwei junge Studentinnen getroffen, die ihr Studium gerade begonnen hatten. Sie zeigten mir einen Zettel mit mathematischen Übungsaufgaben aus einem Einführungskurs und baten mich um ein paar Kommentare. Und dort habe ich seit langer Zeit wieder eine Formel gesehen, die vermutlich alle kennen, die auf der Universität mit Mathematik zu tun haben:
Übersetzt in normale Sprache liest sich diese lange Kette mathematischer Symbole so: Für jedes Epsilon größer als null gibt es ein Delta größer als null, so dass für alle x aus der Menge D mit einem Abstand von x0 kleiner als Delta gilt, dass der Abstand von f(x) zu f(x0) kleiner als Epsilon ist.
Das Ganze hat mit reellen Funktionen zu tun und ist nichts anderes als die mathematische Definition von »Stetigkeit«. Anschaulich gesagt ist eine Funktion immer dann stetig, wenn sie keine »Sprünge« macht. Aber in der Mathematik geht Exaktheit immer vor Anschaulichkeit und deswegen braucht es das, was als die »Epsilon-Delta-Definition der Stetigkeit« bekannt ist.
f(x) non facit saltus
Die oft etwas abwertend als »Epsilontik« bezeichnete Technik gehört zu den ersten Dingen, die alle Studierende in ihren Mathematikvorlesungen lernen. Es geht dabei darum, dass die Abweichung von einem bestimmten Fixwert nicht zu groß werden darf. Oder genauer gesagt: dass sie beliebig klein werden kann.
Im Beispiel der Stetigkeit wählt man mit Epsilon eine gerade noch akzeptable Änderung des Funktionswerts, also quasi die Höhe des »Sprungs«, den eine Funktion beim Wechsel von x zu x0 machen darf. Wenn man dann eine maximale Änderung Delta im Argument der Funktion finden kann, die sicherstellt, dass die Änderung des Funktionswerts kleiner als dieses Epsilon ist, dann ist die Funktion stetig. Denn die Definition besagt ja, dass das Prinzip für jeden Wert von Epsilon funktionieren muss, solange Epsilon nur größer als null ist. Oder anders gesagt: Die »Sprünge« der Funktion werden beliebig klein, sofern die Zahlen die man in die Funktion einsetzt ausreichend nahe beieinander liegen.
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich die Symbolfolge »∀ε>0 ∃δ > 0« im Lauf meines Studiums in meine Hefte, Notizbücher oder auf Prüfungsbögen geschrieben habe. Oft genug jedenfalls, um sie mir dauerhaft ins Gedächtnis einzuprägen. Und oft genug, um auch nach so langer Zeit beim Blick auf die Unterlagen der Studentinnen wieder für ein etwas nostalgisches Gefühl zu sorgen.
Aber wo sonst als in der Mathematik sollte man solch eine Beständigkeit auch finden? In allen anderen Wissenschaften können sich selbst die als fundamental geglaubten »Tatsachen« ändern. Paradigmenwechsel, wie sie zum Beispiel durch die Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik verursacht wurden, verändern auch die Grundlagen eines Fachs. Wer Ende des 19. Jahrhundert Physik gelernt hat, hat vermutlich eine ganz andere Einführungsvorlesung gehört als heute, und ich traue mich nicht zu spekulieren, was man in 100 Jahren dort hören wird. Aber auch im 22. Jahrhundert werden Studierende der Mathematik mit ziemlicher Sicherheit noch Epsilons und Deltas in ihren Unterlagen notieren.
Die Erkenntnisse der Mathematik sind ebenso beständig und stetig wie es die Definition der Stetigkeit selbst ist. Die Beweise und Definitionen sind für die Ewigkeit gemacht und werden noch für lange Zeit existieren. Genauso vermutlich wie der berühmteste (und kürzeste) mathematische Witz: »Sei Epsilon kleiner null«.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben