Sex matters: Sex ohne Beziehung gibt es nicht
»Seit zwei Jahren habe ich keine feste Freundin, sondern wechselnde Partnerinnen. Ich möchte einfach momentan keine Beziehung. Oft habe ich One-Night-Stands, manchmal treffe ich dieselbe Frau auch mehrmals. Ein Freund, der in einer festen Beziehung lebt, hat mich neulich gefragt: Hast du eigentlich guten Sex? Ich muss zugeben: Der Sex mit meiner letzten Freundin war besser. Aber ich weiß nicht, was ich falsch mache. Geht guter Sex etwa nur mit Beziehung?« (Sinan*, 27 Jahre)
Eine gute Frage. Wie viel Beziehung braucht es, damit Sex erfüllend ist? Und was soll eigentlich Sex ohne Beziehung genau sein? Neulich las ich den Begriff »Freundschaft plus«. Es gibt auch die schöne Formulierung »Gelegenheitssex«. Im Grunde haben alle Vokabeln eins gemeinsam: Es geht um Sex ohne Liebesbeziehung.
Sinan, der zu mir in die Praxis kam, fand die Idee von Sex ohne Liebesbeziehung angenehm. Weil es unkompliziert sei. Weil er keine Verpflichtungen habe, er sei sowieso beruflich viel unterwegs. Deswegen lieber nichts Festes, keine Beziehung im klassischen Sinn. Ich habe nachgefragt, was genau Beziehung für ihn persönlich bedeutet. Die Antwort: Heiraten, Zusammenwohnen, Verbindlichkeiten. Vor allem: wahre Liebe. Weil das bei ihm nicht zutraf, war er der Meinung, er hätte Sex ohne Beziehung.
Ich behaupte: Sex ohne Beziehung ist gar nicht möglich. Es mag Sex ohne Liebe geben, aber eine Beziehung – egal welcher Art – haben wir zu jedem Menschen, mit dem wir Sex haben. Für mich ist die spannende Frage dabei, unter welchen Voraussetzungen sexuelle Beziehungen ohne Liebe oder feste Partnerschaft gelingen.
Dass Sex nur dann glücklich macht, wenn die Beteiligten in einer Liebesbeziehung leben, ist ein Mythos. Sexualität findet heute in verschiedenen Konstellationen und in einem freieren Rahmen statt als vor 100 Jahren. Frei heißt aber nicht, dass wir verantwortungslos handeln dürfen. Jeder Mensch hat Verantwortung für die Person, mit der er oder sie Sexualität erlebt. Dabei ist es egal, ob es eine Person ist, mit der ich öfter Sex habe, oder ob es mehrere Personen sind, mit denen ich One-Night-Stands habe.
Als ich das Stichwort Verantwortung ins Gespräch gebracht habe, sagte Sinan, das sei ihm halt zu viel. Meine Nachfrage: Was genau heißt es, Verantwortung für einen Menschen zu übernehmen? Es geht dabei nicht um Haus, Kinder und Altersvorsorge. Vielmehr darum, sich einig zu werden: Wie wollen wir unsere Begegnung gestalten, damit sie uns beide zufrieden und glücklich macht?
Die Kommunikation ist eine andere als in einer Partnerschaft. Es geht früh und konkret um Sexualität
Gehen wir zu dir oder zu mir? Der Satz ist ein Klassiker im Gelegenheitssex-Dialog. Außerdem ein gutes Beispiel dafür, was sich ändert, wenn Sex ohne Liebesbeziehung stattfindet: Die Kommunikation ist eine andere als in einer Partnerschaft. Es geht früh und konkret um Sexualität. Gerade am Anfang braucht es explizite Gespräche. Denn es gibt viel weniger, was vorausgesetzt werden kann. Wann treffen wir uns? Wo? Wie machen wir es mit der Verhütung? Übernachtet der eine beim anderen, oder geht jeder nach dem Sex seiner Wege?
»Darüber haben wir nie gesprochen«, berichtete mir mein Klient im Gespräch. »Ich dachte mir, das findet sich schon. Und irgendwie wäre es mir auch unangenehm, so explizit zu sein.«
Fragen haben wir alle, doch oft trauen wir uns nicht, sie zu stellen. Dabei ist wissenschaftlich erwiesen: Eine gelungene sexuelle Beziehung braucht Kommunikation. In einer großen Metaanalyse haben US-amerikanische Forschende knapp 50 Studien zusammengetragen und sind zu einem sehr klaren Ergebnis gekommen: Wer mehr miteinander über Sex redet, hat erfüllteren, glücklicheren, besseren Sex.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Die konkrete Frage meines Klienten: Wie viel soll ich denn mit der Frau reden? Müssen wir echt jedes Detail klären? Meine Antwort: Sexualpartner sollten sich mindestens so weit austauschen, dass sie sich einig darüber sind, was sie unbedingt besprechen wollen. Manchmal reichen Ort und Verhütung. Es kann aber auch konkret darum gehen, wie man gerne berührt wird, was sich der eine wünscht und was der andere – und was vielleicht auch nicht.
Damit landen wir beim Thema Konsens. Ich möchte dich jetzt küssen – möchtest du das auch? Wie schön, wenn beide dasselbe wollen! In langjährigen Liebesbeziehungen braucht es diese Frage nicht mehr täglich. Doch je öfter die Partner wechseln, umso mehr bedarf es klärender Worte.
Ein gewisses Maß an Verbindlichkeit
Und noch eine Zutat ist für gelungenen Sex wichtig: ein gewisses Maß an Verbindlichkeit. Es macht das Miteinander netter und schafft Vertrauen. Ich gehe zum Beispiel jeden Sonntag zur Bäckerei um die Ecke und hole fünf Brötchen, zwei Croissants und eine Brezel. Die Verkäuferin kennt mich und hat die Tüte schon parat, wenn ich komme. Wir haben niemals einen Vertrag über die Sonntagstüte unterschrieben, aber wenn ich in den Urlaub fahre, sage ich ihr Bescheid. Ich weiß einfach, dass die Sonntagstüte zu einer Gewohnheit geworden ist, und finde es wichtig, Ausnahmen von der gelebten Regel zu kommunizieren.
Heißt beim Sex: Wer üblicherweise nach jedem Date eine Nachricht schreibt, darf gerne erklären, wenn er das auf einmal nicht mehr tut. Und wer normalerweise nach dem Sex übernachtet, kann vorher ankündigen, wenn er diesmal nach Hause geht. Denn jeder Mensch hat ein Bedürfnis nach Verlässlichkeit.
Der junge Mann, der keine feste Beziehung wollte, hat sich nach unserer Sitzung darauf eingelassen, es mit Kommunikation und einem Quäntchen Verbindlichkeit zu probieren. Nach drei Monaten bekam ich eine Nachricht, es sei jetzt irgendwie viel besser mit dem Sex. Und so schlimm, wie er anfangs gedacht hatte, sei das mit dem Reden ja doch nicht. Die Top-Empfehlung für alle Menschen, die erfüllenden Sex haben möchten: Gehen Sie ins Gespräch, bevor Sie ins Bett gehen.
Und nun sind Sie dran: Wonach möchten Sie gefragt werden?
Machen Sie eine kleine Fantasiereise in die Zukunft oder in die Vergangenheit. Sie begegnen einem Menschen, mit dem Sie Sex haben möchten. Oder Sie erinnern sich an einen One-Night-Stand oder einfach ein »erstes Mal«. Was wären Fragen gewesen, die Sie gern gehört hätten? Was wären drei Dinge, die Sie gern besprochen hätten oder besprechen würden, sich aber bislang nie zu fragen getraut haben?
* Name von der Redaktion geändert
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