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Sex matters: Heute komme ich nicht

Warum ist Sex ohne Orgasmus manchmal der bessere Sex? Und was hat das mit einem Roadtrip zu tun? Der Sexualtherapeut Carsten Müller gibt Reisetipps. Eine Kolumne.
Symbole vor rotem Plüsch: Höhepunkt, Roadtrip durch Frankreich
Nur jede dritte Frau kommt beim Sex mit ihrem Partner zum Höhepunkt. Aber wer auf der gemeinsamen Reise nur das eine Ziel verfolgt, verpasst auch etwas.

»Meine Frau und ich hatten wirklich guten Sex, bis ich wegen einer Prostata-Erkrankung Orgasmusstörungen bekam. Ich kann einfach nicht mehr kommen. Medizinisch ist da nichts zu machen. Für meine Frau und mich ist das furchtbar. Warum sollen wir überhaupt Sex miteinander haben, wenn ich keinen Höhepunkt mehr haben kann? Sex findet bei uns jetzt gar nicht mehr statt. Ich bin ziemlich deprimiert, und auch meine Frau leidet sehr darunter.« (Holger*, 48 Jahre alt)

Warum haben wir eigentlich Sex? Ist es wirklich nur für den Orgasmus oder für die Fortpflanzung? Bei einer Umfrage würden diese beiden Gründe sicherlich in den Top Five landen. Viele Menschen finden Sex nämlich nur dann gut, wenn er ein klares Ziel verfolgt. So wie Holger und seine Frau. Für die beiden schien der Orgasmus unersetzlich – vor allem seiner. Während sie den Sex mit ihm durchaus auch dann genießen konnte, wenn sie keinen Orgasmus hatte, war für Holger Sex gleichbedeutend mit dem Höhepunkt. Seine Frau war deshalb mit der Situation ebenso unglücklich wie er, denn sein Orgasmus war auch ihr sehr wichtig.

Wie wichtig es offensichtlich für viele Partner ist, dass der andere einen Orgasmus hat, zeigt eine Studie der australischen Psychologin Emily Harris. Gemeinsam mit anderen Forschenden veröffentlichte sie 2019 eine Untersuchung darüber, warum Frauen in heterosexuellen Beziehungen Orgasmen vorspielen. Zunächst stellten die Forscherinnen und Forscher fest, dass lediglich 33 Prozent der Frauen beim Sex mit einem Partner einen Höhepunkt erlebten, während 67 Prozent keinen Orgasmus hatten. Aber insgesamt 77 Prozent der Frauen hatten bereits mindestens einmal in ihrem Leben, viele auch regelmäßig, einen Orgasmus vorgespielt – unter anderem, um dem Partner ein gutes Gefühl zu geben oder in dem Glauben, sie könnten damit Untreue verhindern.

Sex kann wie ein Roadtrip sein: ohne Ziel

Ist Sex wirklich nur dann gut, wenn es zum Höhepunkt kommt? Das kann so sein, muss es aber nicht. Sex kann auch wie ein Roadtrip sein: ohne Ziel. Losfahren, schauen, wie schön es abseits der Straße ist. Den Ausblick genießen oder auch mal abbiegen. Sich Zeit nehmen für die unerwarteten kleinen Abenteuer, die sich unterwegs ergeben. Die gemeinsame Reise kann die tollsten Momente bereithalten. Man kann ungeahnt schöne Dinge abseits der Hauptstraße entdecken. Der Weg ist das Ziel.

Der Orgasmus ist nur ein kleiner Teil dessen, was Sexualität ausmacht. Sex kann so viel mehr sein! Wenn es immer nur um den Orgasmus geht, ist das ziemlich beschränkend. Und spätestens dann, wenn ein Orgasmus körperlich nicht möglich ist, wird es Zeit, den Blick zu weiten.

Für meinen Klienten Holger war das am Anfang unserer Gespräche schwierig. Für ihn war Sex gleichbedeutend mit Penetration und Orgasmus. Eine Erektion konnte er trotz der Folgen der Prostata-Erkrankung noch haben, aber der Sex hatte für ihn ohne Höhepunkt den Sinn verloren. Als ich ihn fragte, ob er Momente nennen könne, die er abseits davon als lustvoll, erregend oder erotisch empfände, war er zunächst ratlos. Zärtlichkeit oder Erotik war für ihn einfach kein richtiger Sex. Natürlich hatten er und seine Frau einander beim Sex auch berührt und gestreichelt – aber mit dem Ziel, zum Höhepunkt zu kommen. Den Weg dahin hatte er kaum wahrgenommen. Auch für sie war das Hauptproblem, dass er nicht mehr kommen konnte. Seine Befriedigung war für sie ein elementarer Bestandteil ihrer sexuellen Beziehung gewesen.

Der Orgasmus als Männlichkeitsbeweis?

Sie selbst kam manchmal auch nicht zum Höhepunkt und konnte dennoch den Sex mit ihm genießen. Haben Männer den Orgasmus eher »nötig« als Frauen, um Sex als befriedigend zu erleben? Klingt provokant, aber da könnte etwas dran sein. Weil das vorherrschende Männlichkeitsbild immer noch mit Potenz zu tun hat und der Orgasmus vermeintlich dazugehört: Er bestätigt die eigene Männlichkeit. Dieser Beweis fehlt, wenn es keinen Orgasmus mehr gibt. Doch das bräuchte es gar nicht mehr, wenn es um mehr geht – um Freude am Körper, um Genuss.

Wie also zu dieser neuen Form von gemeinsamer Sexualität finden? Wie kann man jemandem, der am liebsten nach Mallorca fliegt, Lust auf einen Roadtrip durch Frankreich machen? In unseren Gesprächen habe ich Holger danach gefragt, was Lust und Sexualität für andere Menschen bedeuten könnte. Auf diese Weise fiel es ihm leichter, Momente von Lust, Erregung und Erotik abseits des Orgasmus zu sehen.

In meiner Praxis habe ich immer wieder erlebt, dass Paare es als hilfreich empfinden, konkrete Körperübungen auszuprobieren. Diese brachten auch für Holger und seine Frau den Wendepunkt. Wir vereinbarten, dass sie sich Zeit nehmen, um einander zu streicheln. Dass sie innehalten, sobald sie Lust empfinden, um das Gefühl bewusst zu genießen.

Lust oder Erregung kann, genau wie der Orgasmus, ein erwünschter Zustand sein. Das Gefühl, einen anderen Menschen zu erregen oder von einem anderen Menschen erregt zu werden, gewinnt an Bedeutung, wenn es wertgeschätzt wird. Wenn es nicht nur eine blühende Landschaft ist, über die man im Flieger hinwegrast, sondern wenn Lust und Erregung selbst zum Ziel werden – zu einer Party auf dem Roadtrip.

Ein spannendes Thema beim Sex ohne Orgasmus ist natürlich die Frage: Wie endet das eigentlich? Der Höhepunkt ist ja häufig auch das Ende. Laut der Studie von Emily Harris und ihrem Team setzten Frauen den vorgespielten Orgasmus sogar gezielt ein, um schlechten Sex zu beenden. Sie nutzten den vorgetäuschten Höhepunkt, um ihrem Partner mitzuteilen: Wir sind fertig.

Ohne den Orgasmus – ob Fake oder echt – braucht es eine andere Art der Kommunikation. Wollen wir hier rechts abbiegen und gucken, was es an der kleinen Landstraße zu sehen gibt? Möchten wir jetzt in der Sonne sitzen und einen frischen Minztee genießen?Je vielfältiger die Möglichkeiten sind, umso wichtiger ist es, miteinander darüber zu reden. So wird es für beide ein Roadtrip mit vielen kleinen Höhepunkten.

Und nun sind Sie dran: Wie sieht Ihre sexuelle Reise aus?

Fangen Sie mit der Frage an: Was wäre für mich beim Sex ein guter Roadtrip? Überlegen Sie, wie die Nebenstraßen aussehen könnten oder welche Highlights Sie unterwegs entdecken wollen. Überlegen Sie, welche drei Stationen Sie mit Zeit und Muße genießen möchten, und sprechen Sie mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin darüber.

* Name von der Redaktion geändert

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