Freistetters Formelwelt: Origami für die Besiedlung des Weltraums
Origami, die japanische Kunst des Papierfaltens kann einfach sein: Einen traditionellen Kranich schafft man auch mit wenig Übung. Das präzise Knicken trägt aber auch das Potenzial für erstaunliche Komplexität in sich, die sich zum Beispiel in dieser Formel zeigt:
Sie stammt aus der Arbeit des japanischen Astrophysikers Kōryō Miura. Schon 1985 entwickelte er eine »developable double corrugation surface«, was man mit »veränderbare doppelt gewellte Fläche« übersetzen könnte, heute aber meist als Miura-Faltung bezeichnet wird. Eine solche Fläche entsteht, wenn man ein Stück Papier so faltet, dass die Falze sich zu Parallelogrammen mit Winkeln von 84 und 96 Grad anordnen. Jeder Schnittpunkt der Kniffe im Papier muss dabei an drei Tal- und eine Bergfalte grenzen beziehungsweise an drei Berg- und eine Talfalte (diese Begriffe bezeichnen im Origami die beiden unterschiedlichen Richtungen, in die man das Papier knicken kann). Hat man die Struktur korrekt vorbereitet, lässt sich das Papier an zwei gegenüberliegenden Enden greifen und mit einer kontinuierlichen Bewegung in sich zusammenklappen. Genau dieses Phänomen beschreiben die beiden Gleichungen aus Miuras Arbeit: Jede Verkürzung in x-Richtung ist gleichzeitig auch eine in y-Richtung und umgekehrt (die beiden Winkel in der Formel beschreiben die Orientierung der einzelnen Parallelogramme zueinander).
Bastelstunde für Astronauten
Aus ästhetischer Sicht ist die Miura-Faltung äußerst eindrucksvoll. Aber warum beschäftigt sich ein Astrophysiker damit und macht sich die Mühe, das Ganze auch noch mathematisch zu analysieren? Weil man mit Origami eben nicht nur Papier zu Kranichen falten kann – sondern auch Solarmodule von Raumfahrzeugen. Solange es keine dauerhaft besiedelte Basis im Weltraum gibt und wir uns Ressourcen direkt aus dem All besorgen können, müssen wir alles von der Erde mit Raketen nach oben transportieren. Doch das ist teuer. Je weniger Volumen das Raumfahrzeug einnimmt, desto besser. Eine Technik, mit der man eine große Fläche falten und in einem sehr kleinen Raum unterbringen kann, hat daher jede Menge praktische Anwendungen.
Ein entsprechendes Experiment wurde 1995 an Bord der »Space Flyer Unit« durchgeführt, einem japanischen Forschungssatelliten, der das Ausklappen einer Miura-Faltung im All getestet hat. Darüber hinaus haben sich im Lauf der Zeit zahlreiche weitere technische Anwendungen für Origami-Faltungen gefunden. Airbags werden nach Prinzipien des Origamis ebenso zusammengelegt wie medizinische Implantate, die etwa in Blutgefäße eingeführt werden, um sich dort auszudehnen und sie so offen zu halten.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.
Die Mathematik hat sich ebenfalls mit dem Papierfalten beschäftigt. Die Huzita-Hatori-Axiome (benannt nach Humiaki Huzita und Koshiro Hatori) formulieren grundlegende Faltungsregeln in mathematisch strenger Sprache. Sie geben an, welche Faltungen von einer gewissen Ausgangssituation möglich sind. Axiom 1 besagt zum Beispiel, dass bei zwei gegebenen Punkten nur eine Faltung möglich ist, die durch beide davon verläuft. Ebenso gibt es nur eine Faltung, durch die Punkt 1 auf Punkt 2 zu liegen kommt (Axiom 2). Axiom 4 besagt, dass es genau eine Faltung gibt, die rechtwinklig zu einer gegebenen Linie und durch einen gegebenen Punkt verläuft. Und so weiter: Mit den insgesamt sieben Axiomen lassen sich die gleichen geometrischen und algebraischen Konstruktionen durchführen wie mit Zirkel und Lineal.
Mathematische Beweise werden in Zukunft vermutlich dennoch auf dem Papier durchgeführt werden und nicht mit dem Papier selbst. Aber um die Kreativität anzuregen, kann ein bisschen Falten definitiv nicht schaden, selbst wenn am Ende wieder nur ein Kranich dabei rauskommt.
Schreiben Sie uns!
1 Beitrag anzeigen