Kinder-Osteopathie: Babys sind weder schief noch blockiert
Eltern kennen das: Sie tragen, schuckeln und stillen das Baby, singen, gehen spazieren und schuckeln es wieder – trotzdem weint es. Hungrig? Müde? Überfordert? Nein, das Kind habe ein »Geburtstrauma«, sagt zumindest die Osteopathin. Das Baby sei gewiss zu schnell, zu langsam, mit der Geburtszange oder gar per Kaiserschnitt auf die Welt gekommen. Überhaupt ist so eine Geburt an sich ja schon stressig!
Oft gibt es in Geburtsvorbereitungskursen Hinweise auf das sanfte Wirken von Kinder-Osteopathie; so manche Hebamme empfiehlt die Behandlung. Was ist davon zu halten?
Schauen wir zunächst, wie die Therapie funktionieren soll: Der Amerikaner Andrew Taylor Still hat die Osteopathie erfunden. Der Arzt entwickelte seine »manuelle Therapie« um das Jahr 1874. Die Idee ist also schon etwas älter. Still sah den Ursprung aller möglichen gesundheitlichen Beschwerden in »Läsionen« beziehungsweise »Blockaden«, die es zu lösen gelte. Ziel war ein harmonischer Blutfluss und der Abtransport von Schadstoffen (»arterial rule«).
Seiner Überzeugung nach handelte es sich dabei ursächlich zumeist um Fehlstellungen des Skeletts, teilweise um Fehllagen von Organen, die sich mit bloßen Händen beheben ließen. Außerdem sollten sich damit Wirbel und Knochen »zurechtrücken« sowie Muskeln und andere Körperteile mit »sanftem Druck« behandeln lassen. Auf diese Weise – so das Versprechen bis heute – würden die Selbstheilungskräfte des Körpers aktiviert und gestärkt, wodurch selbst langwierige Beschwerden wie Schmerzen heilbar wären. Still sah das gar als die einzig wahre Möglichkeit, um Beschwerden zu heilen. Ein vollmundiges Versprechen.
Manches spricht dafür, dass sich Osteopathen von solchen vitalistisch-esoterischen Ursprungsvorstellungen lösen und ihre Methode mit Erkenntnissen aus der Forschung begründen möchten. Insbesondere Untersuchungen im psychosozialen und psychosomatischen Bereich sind von Interesse. Es ist ein Versuch, sich den Kriterien evidenzbasierter Medizin anzunähern. Eine Beurteilung des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesärztekammer von 2009 zeigt allerdings sehr differenziert, warum der Ansatz schwierig ist. Ein Grund: Es fehlt vor allem eine übergreifende Begriffsdefinition osteopathischer Verfahren. Das macht es sehr problematisch, mit – zumeist internationalen – Studien die Wirksamkeit zu belegen.
Homöopathie lässt grüßen
Da alles auf Blockaden aufbaut, gilt es nun zu fragen: was für Blockaden eigentlich? Es ist nämlich ein Unterschied, ob damit verkrampfte Muskeln gemeint sind (gibt es wirklich) oder innere Blockaden. Etwa »gestaute Energien« (Homöopathie lässt grüßen) oder gar »Schwingungen in Knochen« (sind selbst für Homöopathen zu viel).
Während die manuelle Form der Osteopathie noch eine anatomisch-rationale Grundlage hat, wird es bei der viszeralen schon weitaus schwammiger und bei der kranio-sakralen Unterform geradezu esoterisch. Denn, nein, solche inneren Blockaden sind so nicht nachgewiesen und ergeben bezüglich der Kenntnis über Krankheitsvorgänge und Funktionsstörungen keinen Sinn. Auch liegen ihnen keine Krankheitsbilder zu Grunde, die mit den internationalen Diagnosekriterien korrespondieren. Entsprechend gibt es für die beiden letzten Bereiche der Osteopathie wenig bis keine Beweise, dass sie wirkt – erst recht nicht bei Kindern.
Es mangelt an Studien mit Qualität und an Studien überhaupt
Wirklich gute, qualitativ hochwertige Studien, die eine Wirksamkeit der Osteopathie bei Säuglingen und Kindern belegen könnten, sind eher rar. Und so kommt auch ein systematisches Review, das alle brauchbaren vorhandenen Studien auswertet, zu dem Schluss: »Die Evidenz für die Wirksamkeit der Osteopathie bei pädiatrischen Erkrankungen bleibt auf Grund der geringen Anzahl und der geringen methodischen Qualität der Primärstudien unbewiesen. […] die größten und methodisch korrekten Studien [konnten] keinen Effekt zeigen […]«
Bemerkenswert seien geradezu die mangelnde methodische Qualität und der Mangel an Studien überhaupt. »Solange keine Daten vorliegen, kann die Osteopathie nicht als effektive Therapie für Kinder betrachtet werden, und Osteopathen sollten das auch nicht behaupten.«
Wenn eine Methode schon im Ansatz nicht mit dem bewährten Wissen über Anatomie und Pathologie übereinstimmt, sollte einen das zweifeln lassen. Heißt es nach wissenschaftlicher Prüfung: »Es gibt keine Belege für …«, dann ist das ein klares Urteil.
Sicherlich ist das Gehaltenwerden schön, die Ruhe, die sanfte Berührung. Doch außer bei unspezifischen Rückenschmerzen – und die dürften bei Babys nicht Anlass für eine Behandlung sein – gibt es so gut wie keine wirklichen Belege für eine positive Wirkung einer osteopathischen Behandlung über den wohltuenden Effekt des Behandlungssettings hinaus.
Das berüchtigte KISS-Syndrom ist erfunden
Wenn Ihr Kind nicht gerade einen angeborenen Schiefhals (Torticollis) hat, den ein Arzt sorgfältig diagnostizieren sollte, dann ist nichts schief, was nicht von allein wieder verschwindet. Auch angebliche Geburtstraumata im ostoepathischen Sinn gibt es nicht, und das berüchtigte KISS-Syndrom – eine relativ neue vermeintliche Diagnose im Umfeld der Osteopathie, eine angebliche kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung – ist sogar ganz erfunden.
Unruhe, ein verbeulter Schädel, Schreien, Trinkvorlieben, Spucken, Sabbern, kurze Schlafphasen – das alles gehört zum normalen Baby-Dasein. Es ist für sich genommen kein behandlungsbedürftiger Zustand. Wer das behauptet, ist bestenfalls unwissend besorgt, schlimmstenfalls möchte die Person mit der durchaus fordernden Phase der frühen Kindheit Geld verdienen. Die Pathologisierung von Zustandsbildern, die häufig auftreten, ist ein grundsätzliches Problem, übrigens keineswegs nur in der Osteopathie.
Was wirklich wirkt? Die schwierige Zeit gemeinsam aushalten und die Gewissheit, dass es in aller Regel nichts zu behandeln gibt, was sich nicht von allein auswächst, sowie das Vertrauen zum Kinderarzt.
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