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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Achilles und die Schildkröte begleiten uns bis ins Quantenzeitalter

Vor 2500 Jahren trieb Gelehrte die Frage um, wie sich in unserer Welt überhaupt etwas bewegen kann. Das Problem schien gelöst – bis die Quantenmechanik entwickelt wurde.
Blick von oben: mehrere Hasen und eine Schildkröte auf einer Laufbahn im Stadion, die Schildkröte führt.
Eigentlich ist klar, dass die Hasen das Wettrennen gewinnen sollten. Aus mathematischer Sicht ist das aber gar nicht so einfach.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

In meiner Freizeit gehe ich gern laufen. Ich bin zwar keine wahnsinnig schnelle Joggerin, aber ich denke schon, dass ich es mit einer Schildkröte aufnehmen könnte. Die Tiere schaffen es gerade einmal, etwa 80 Meter am Tag zurückzulegen. Doch laut Zenon von Elea, einem antiken griechischen Gelehrten, der etwa 400 Jahre vor unserer Zeitrechnung lebte, ist der Ausgang eines Wettrennens zwischen mir und einer Schildkröte nicht völlig klar – zumindest unter der Annahme, dass ich aus Nettigkeit dem lahmen Tier einen Vorsprung gewähre.

Natürlich war Zenon klar, dass Menschen eine Schildkröte locker überholen können. Er wollte aber darauf aufmerksam machen, dass das aus mathematischer Perspektive nicht ganz so selbstverständlich ist. Und damit behielt er Recht: Es dauerte knapp 2000 Jahre, bis eine Lösung gefunden wurde.

Inzwischen scheint das Paradoxon mathematisch keine Fragen mehr aufzuwerfen. Zwar streiten einige Philosophinnen und Philosophen immer noch darüber; aber auf einer Metaebene, die aus naturwissenschaftlicher Sicht nicht relevant ist. Allerdings gewinnt das Paradoxon von Zenon seit einigen Jahren an anderer Stelle wieder an Bedeutung, nämlich in der Quantenphysik.

Das Gedankenexperiment, das Zenon schilderte, war folgendes: Angenommen, ich fordere eine Schildkröte zu einem 100-Meter-Lauf heraus. Ich gewähre dem Tier einen Meter Vorsprung (nicht allzu viel, schließlich will ich ja gewinnen). In diesem Fall, so folgert Zenon, wird es mir niemals gelingen, die Schildkröte zu überholen.

Auch wenn das total absurd klingt, so erscheint Zenons Begründung gar nicht so abwegig. Ich lasse die Schildkröte also starten und beginne meine Aufholjagd erst, wenn sie einen Meter zurückgelegt hat. Sobald ich aber einen Meter gelaufen bin, ist das Tier ebenfalls weitergekommen, sagen wir 20 Zentimeter. Bis ich an diesem Punkt bin, also insgesamt 1,20 Meter zurückgelegt habe, ist die Schildkröte weiter vorangeschritten, und zwar vier Zentimeter. So geht es immer weiter: Jedes Mal, wenn ich an die Stelle komme, wo sich die Schildkröte befand, wird sie weitergegangen sein. Deshalb ist mir das Tier immer voraus – und ich kann den Lauf unmöglich gewinnen.

Eigentlich beschrieb Zenon ein Wettrennen zwischen einer Schildkröte und Achilles, dem flinksten Helden Griechenlands. Aber mit mir als Läuferin funktioniert das Gedankenexperiment genauso, solange ich normalerweise schneller bin als eine Schildkröte. In beiden Fällen gibt es einen Widerspruch zwischen dem, was wir in der Realität wahrnehmen – Menschen überholen Schildkröten – und dem, was die theoretische Beschreibung nahelegt.

Und tatsächlich gingen Zenons Überlegungen noch weiter. Da sich jede Art von Bewegung zu unendlich vielen verschiedenen Zeitpunkten betrachten lässt, wurden Veränderungen im Allgemeinen zum Problem. Die Paradoxa von Zenon besagen, dass die Welt aus mathematischer Sicht gewissermaßen still verharren müsste. Diese Argumente beschäftigten die Fachwelt jahrtausendelang; wo lag der Denkfehler?

Verschiedene Arten der Unendlichkeit als Lösung?

Aristoteles sah das Paradoxon als Unterstützung seiner atomistischen Weltsicht an: Der Raum und die Zeit lässt sich demnach nicht in unendlich viele kleine Stücke teilen. Demnach wird Achilles irgendwann an eine minimale Distanz zu der Schildkröte stoßen – und sie danach überholen. Archimedes hingegen argumentierte, dass man in diesem Fall zwischen verschiedenen Unendlichkeiten unterscheiden müsse: dem unbegrenzt Großem auf der einen und dem begrenzten Kontinuum auf der anderen Seite.

In die erste Kategorie fällt zum Beispiel die Menge der natürlichen Zahlen (1, 2, 3, 4, …), die nach oben hin unbegrenzt ist: Es gibt keine größte natürliche Zahl. In die Kategorie des begrenzten Kontinuums fällt ein Intervall auf dem Zahlenstrahl, etwa ein Zentimeter. Diese Strecke hat zwar eine endliche Länge, besteht aber aus unendlich vielen Punkten. Archimedes gab zu bedenken, dass ich für die schrumpfenden Distanzen, die mich bei einem Wettrennen von der Schildkröte trennen, immer weniger Zeit benötige, um sie zurückzulegen.

Mit diesem Gedanken lag Archimedes richtig, aber er konnte ihn nicht belegen. Eine wissenschaftliche Lösung des Paradoxons bot erst der mathematische Bereich der Analysis, der 2000 Jahre nach dem Gedankenexperiment von Zenon entstand. Durch die damals von Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelten Methoden lässt sich mathematisch beweisen, dass Archimedes' Idee korrekt war. Man kann eine Länge zwar in unendlich viele kleine Intervalle aufteilen, aber das heißt nicht, dass es unendlich lange dauert, sie zu durchqueren. Sprich: Es gibt unendlich viele Momente, in denen mir die Schildkröte voraus ist, aber die Summe dieser Augenblicke ist endlich – und sogar recht kurz.

Der Moment, an dem ich die Schildkröte überhole

Das lässt sich mit den heute verfügbaren mathematischen Werkzeugen schnell berechnen. Angenommen, ich habe der Schildkröte einen Meter Vorsprung gewährt und laufe danach mit etwa zwölf Kilometer pro Stunde los (ich will keinen Sprint hinlegen, sondern joggen). Die Schildkröte sei der Einfachheit halber fünfmal langsamer als ich – auch wenn die Tiere in Wirklichkeit viel lahmer sind. Wenn ich einen Meter zurückgelegt habe, hat sich die Schildkröte 20 Zentimeter weiterbewegt; wenn ich dann dort angekommen bin, läuft sie zusätzliche 4 Zentimeter und so weiter. Die Distanz S, die ich beim Aufschließen zurücklege, entspricht also: S = 1 + 151251125 + … Die Summe besteht aus unendlich vielen Summanden, die immer kleiner werden.

Ohne Analysis gibt es keine Möglichkeit, eine solche Summe auszuwerten. Doch Newton und Leibniz haben die Werkzeuge geschaffen, um mit immer kleiner werdenden Größen umzugehen – so genannte Infinitesimale. Und wie sich zeigt, liefert die oben genannte unendliche Summe ein endliches Ergebnis. Das lässt sich erkennen, wenn man den Faktor 15 aus einem Teil der Summe ausklammert: S = 1 + 15·(1 + 151251125 + …).

Da die Summe unendlich lang ist, entspricht der Ausdruck in der Klammer exakt dem Wert S. Damit erhält man folgende Gleichung: S = 1 + ⅕S. Das lässt sich nach S auflösen, wodurch man als Ergebnis erhält: S = 54 = 1,25.

Das bedeutet: Nach 1,25 Metern sind die Schildkröte und ich gleichauf – und dann überhole ich sie. Es gibt zwar unendlich viele Augenblicke, in denen mir die Schildkröte voraus ist; aber ich brauche nur eine endliche Menge an Zeit, bis ich sie überwunden habe. Wenn ich tatsächlich zwölf Kilometer pro Stunde laufe, dann habe ich die 1,25 Meter in knapp 0,375 Sekunden zurückgelegt.

Das Paradoxon von Zenon in der Quantenwelt

Damit waren die Paradoxa von Zenon ab dem 18. Jahrhundert gelöst. Mit der Analysis hatten Mathematiker eine Möglichkeit gefunden, veränderliche Dinge zu beschreiben. Die antiken Widersprüche schienen aus naturwissenschaftlicher Sicht aus der Welt geschafft – bis die Quantenphysik aufkam.

Denn dort taucht das Paradoxon von Zeno wieder auf. Quantenobjekte, etwa ein Teilchen wie ein Elektron oder ein Molekül, können sich der Theorie zufolge nicht verändern oder bewegen, während sie beobachtet werden. Sie verhalten sich wie ein Schauspieler mit extremem Lampenfieber, der durch die durchdringenden Blicke der Zuschauer gewissermaßen einfriert.

Quantenobjekte ändern mit der Zeit normalerweise ihren Zustand: Sie können sie von einer Energie zu einer anderen wechseln oder sich von einem Ort zu einem anderen bewegen. Doch wenn man diese Teilchen ständig misst, wird der Wechsel in einen anderen Zustand immer unwahrscheinlicher. Sie bleiben in ihrem ursprünglichen gefangen.

Und tatsächlich konnten Physikerinnen und Physiker dieses Verhalten in Experimenten beobachten: Wenn sie oft genug Messungen an einem Quantensystem vornahmen, ließ sich dessen zeitliche Entwicklung unterdrücken. Sprich, das System verharrte in seinem Zustand, ohne sich zu ändern. Dieser Quanten-Zeno-Effekt wird inzwischen in kommerziellen Magnetometern genutzt. Denn so behalten die Quantensysteme, die ein Magnetfeld sehr präzise vermessen, ihren gewünschten Zustand bei. Inzwischen geht man auch davon aus, dass der Quanten-Zeno-Effekt im Magnetsinn von Vögeln eine Rolle spielen könnte.

Auch 2000 Jahre nach dem Gedankenexperiment des griechischen Philosophen beschäftigt das Paradoxon von Zenon die Fachwelt. Zwar ist das Problem der Bewegung aus mathematischer Sicht geklärt, doch das Paradoxon wirft weiterhin Fragen über unsere Realität auf. Wie können sich die Grundbausteine unserer Welt bewegen und verändern? Was genau ist eine Messung? Und was bedeutet für ein Quantensystem eine Beobachtung? Mal schauen, ob es wieder mehrere Jahrtausende dauert, bis wir diese Fragen beantworten können.

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