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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Wie zwei Mathematiker die Zukunft berechenbar machten

Was passiert, wenn ein Glücksspiel plötzlich endet? Diese vor 400 Jahren gestellte Frage begründete die Wahrscheinlichkeitstheorie – und ist bis heute relevant, etwa für Versicherungen.
Eine Glaskugel als Symbol für den Blick in die Zukunft
Mit Wahrscheinlichkeitstheorie lässt sich etwas über zukünftige Ereignisse aussagen – ganz ohne Glaskugel.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Zwei Menschen spielen ein Glücksspiel, einer liegt vorne – dann müssen sie ihre Partie unerwartet abbrechen. Wie wird das Preisgeld in so einem Fall gerecht aufgeteilt? Obwohl Würfelfunde darauf hindeuten, dass sich die Menschheit seit mehr als 5000 Jahren Glücksspielen hingibt, lieferte erst ein Briefwechsel Mitte des 17. Jahrhunderts eine Antwort auf diese Frage. Das löste eine regelrechte Revolution aus: Plötzlich war man in der Lage, mit Hilfe von Mathematik die Zukunft vorherzusagen. Anfangs weigerten sich manche Menschen, das hinzunehmen. Doch die Wahrscheinlichkeitstheorie war gekommen, um zu bleiben.

Natürlich war schon vor dem 17. Jahrhundert bekannt, dass die Wahrscheinlichkeit, mit einem sechsseitigen Würfel eine Drei zu würfeln, ein Sechstel beträgt. Damals hatten Menschen allerdings eine völlig andere Auffassung davon, was Wahrscheinlichkeit eigentlich bedeutet. Für mich ist der Begriff beispielsweise untrennbar mit einer Vorhersage zukünftiger Ereignisse verbunden. Das ist allerdings eine moderne Interpretation. In der Vergangenheit betrachteten Fachleute solche Prognosen als unmöglich, unwissenschaftlich oder gar frevelhaft.

Nicht so Pierre de Fermat und Blaise Pascal. Die beiden Mathematiker sind sich nie begegnet, schrieben sich 1654 aber eifrig Briefe, in denen sie höfliche Botschaften und wissenschaftliche Erkenntnisse austauschten. Pascal beschrieb seinem Brieffreund die eingangs genannte Situation eines vorzeitig abgebrochenen Glücksspiels. Fermat dachte darüber nach und formulierte eine Antwort – eine mögliche Lösung, damit die beiden Spieler fair entlohnt werden.

Das Problem: Für eine faire Lösung muss man herausfinden, wer das Spiel am ehesten gewinnen wird. Man muss also praktisch einen Blick in die Zukunft wagen. Überraschenderweise ist die Lösung der Aufgabe so einfach, dass sie heute – in überarbeiteter Form – an Schulen gelehrt wird und auch schon im Fernsehen vorgestellt wurde. Denn es geht eigentlich nur darum, Fälle zu zählen. Aber man muss sie eben richtig miteinander verrechnen.

Fermats Lösung: Ein Kinderspiel

Angenommen, zwei Personen namens Pascal und Fermat treffen sich während einer langen Zugfahrt. Sie beginnen, ein Glücksspiel zu spielen (sie würfeln, werfen eine Münze, was auch immer), bei dem jeder von ihnen eine Partie mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 : 50 gewinnt. Sie legen jeweils fünf Euro in den Pott. Der Erste, der drei Partien gewinnt, erhält den gesamten Einsatz, also zehn Euro. Sie spielen gerade die dritte Runde, es steht zwei zu eins für Fermat. Alles ist noch offen, da kommt plötzlich Fermats Haltestelle. Er muss wohl oder übel aussteigen.

Doch was passiert mit den zehn Euro? Die beiden wissen nicht, ob sie sich jemals wieder begegnen, sie können das Spiel also nicht einfach ruhen lassen und später wieder an dieser Stelle aufnehmen. Und halbe-halbe machen kommt Fermat unfair vor, schließlich liegt er ja vorne. Dass Fermat das ganze Geld einstreicht, findet wiederum Pascal ungerecht, er könnte ja immer noch gewinnen. Die Situation ist verzwickt: Beide spielen kein Strategiespiel, bei dem man zumindest theoretisch ermitteln könnte, wer die Partien gewinnen wird. Fermat und Pascal geben sich einem Glücksspiel hin – und es ist unmöglich, genau vorherzusagen, wie es ausgehen wird.

Fermat und Pascal (nun die echten Mathematiker, nicht jene aus dem fiktiven Gedankenspiel) greifen auf Wahrscheinlichkeiten zurück, um eine faire Aufteilung zu finden. Spieler Fermat fehlt ein Punkt zum Sieg, Spieler Pascal zwei. Das heißt, das Spiel wird nach spätestens zwei Runden entschieden sein. Der echte Fermat schlug daher folgende Lösung vor: Man nimmt an, dass beide noch zwei weitere Runden ausspielen würden (selbst wenn Spieler Fermat in der nächsten Runde direkt gewinnt und demnach das Spiel beendet wäre), und zählt, wie viele Möglichkeiten zum Sieg von Spieler Fermat führen und wie viele zum Sieg von Spieler Pascal. Und dann teilt man das Geld im entsprechenden Verhältnis unter den beiden auf.

Wenn also nur noch zwei Spiele offen sind, gibt es bloß eine Möglichkeit, wie Pascal gewinnen kann. Er muss jedes davon gewinnen. Bei Fermat genügt es hingegen, das erste oder das zweite zu meistern. Allerdings sind beide Ereignisse nicht gleich wahrscheinlich: Die Chance dafür, dass Spieler Fermat das erste Spiel vergeigt und das zweite gewinnt, ist kleiner als dafür, dass er das erste Spiel gewinnt und die Partie daraufhin beendet wird. Das ist der Grund, warum Mathematiker Fermat annimmt, dass beide Spielrunden bis zum Ende gespielt werden: Denn in diesem Fall ist jedes der möglichen Ereignisse gleich wahrscheinlich. Das heißt, falls Spieler Fermat die erste Runde gewinnt, nimmt man an, dass trotzdem weitergespielt wird. In der nächsten könnte dann Fermat wieder gewinnen oder verlieren – gewonnen hätte er in jedem Fall.

Insgesamt gibt es also drei gleich wahrscheinliche Szenarien, in denen Spieler Fermat den Pott gewinnen würde, aber nur eines, in dem Spieler Pascal gewinnt. Demnach stehen Fermat ¾ des Gewinns zu (7,50 Euro) und Pascal ¼ (2,50 Euro). Logisch, oder?

Das pascalsche Dreieck | Das pascalsche Dreieck passt wunderbar zu Weihnachten. Um die Zahlen der nächsten Reihe zu erhalten, muss man die zwei darüber befindlichen benachbarten Zahlen jeweils addieren.

Pascal kam auf dasselbe Ergebnis, allerdings mit einem anderen Lösungsweg, der sich an dem kurz zuvor von ihm entwickelten pascalschen Dreieck orientiert. Er griff dabei auf Binomialkoeffizienten zurück und berechnete auf diese Weise direkt, wie viele Möglichkeiten es gibt, die Partien zu gewinnen. Für Spieler Fermat errechnete er die Gewinnwahrscheinlichkeit daher zu:

\[ \sum_{j=1}^2 \binom{2}{j} \frac{1}{2^2} = \frac{3}{4}\]

Seine Methode mag komplizierter wirken, sie eignet sich jedoch für große Zahlen besser, da man nicht darauf angewiesen ist, etliche Fälle auszuzählen. Beide Ansätze liefern aber – vorausgesetzt, man führt sie richtig aus – dasselbe Ergebnis. »Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass meine eigenen Ansichten mit denen von Herrn Pascal übereinstimmen, denn ich bewundere sein Genie unendlich«, schrieb Fermat in einem Brief. Und auch Pascal schätzte die Zusammenarbeit: »Ich sehe, dass die Wahrheit in Toulouse (wo Fermat lebte) und Paris (Pascals Wohnort) dieselbe ist.«

Vom Glücksspiel zu Sterberaten

Die Ergebnisse von Fermat und Pascal wurden nie in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Dennoch verbreiteten sich ihre Methoden innerhalb weniger Jahre in Europa. Kein Wunder, schließlich war insbesondere Fermats Ansatz schnell und leicht nachzuvollziehen. Er erforderte keine fortgeschrittenen mathematischen Kenntnisse, sondern nur die Fähigkeit zu zählen und etwas gesunden Menschenverstand.

Schnell erkannten die Gelehrten, welch mächtiges Werkzeug sie dadurch in die Hand bekamen: eine Methode, um zukünftige Ereignisse zu berechnen. Der Wissenschaftler Christiaan Huygens reiste nach Paris, um sich mit Pascal darüber auszutauschen. Dieser hatte sich aber kurz nach einem Unfall der Religion verschrieben und empfing fortan keine Gäste mehr. Trotzdem schaffte es Huygens, sich das gewünschte Wissen anzueignen, und veröffentlichte 1657 das Werk »De ratiociniis in ludo aleae«, das als eine der ersten fundierten Grundlagen der Wahrscheinlichkeitstheorie gilt.

Dieser neu aufgekommene mathematische Bereich ermöglicht es nicht nur, die Ausgänge von Glücksspielen vorherzusagen. Wie der niederländische Staatsmann Johan de Witt erkannte, könnten diese Methoden auch für Lebensversicherungen eine wichtige Rolle spielen. Um das 18. Jahrhundert herum veröffentlichte der Mathematiker Abraham de Moivre Arbeiten, in denen er aus Sterbetafeln die Sterblichkeitsrate für Personen bestimmten Alters entwickelte. Daraus leitete er eine einfache Formel ab. Sie gibt an, welchen Ertrag jährliche Zahlungen für Personen eines bestimmten Alters bringen. Tatsächlich nutzen manche Versicherungsgesellschaften noch heute eine ähnliche Gleichung, um die Höhe der Beiträge und der Auszahlungen zu berechnen.

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