Warkus’ Welt: Philosophie ist mehr als Meinung
Die Sonne scheint auf Umzugslaster, im Park breiten sich Teppiche von Krokussen aus, Grüppchen enthusiastischer junger Menschen versuchen sich zurechtzufinden, und im Supermarkt wird der Alkohol knapp: untrügliche Anzeichen dafür, dass der Frühling und mit ihm die Vorlesungszeit im Sommersemester begonnen hat. Auch die zahlreichen Philosophieinstitute haben den Lehrbetrieb wieder aufgenommen.
Aber was heißt das genau? In der Philosophie gibt es keine Messgeräte, und die Studenten müssen keine Laborpraktika machen. Wir führen keine Feldstudien durch, wie beispielsweise in der Zoologie, und keine Befragungen. Wir sezieren auch keine Leichen – was tun die Leute denn dann den ganzen Tag? Letzten Endes sitzen wir herum und lesen, schreiben, reden oder hören zu.
Hartnäckig hält sich deshalb die Vorstellung, dass Philosophie so etwas ist wie das, was manche meinen, wenn sie davon sprechen, sie hätten beim Bier über dies und das »philosophiert«: Man sagt halt, was einem so einfällt. Ebenso verbreitet ist der Gedanke, ein Philosophieseminar sei so etwas wie ein Stuhlkreis, bei dem alle mal ihre Meinung zu einem Thema sagen dürfen. Der eine sagt dies, die andere sagt jenes, und was heißt schon richtig und falsch?
Entscheidend ist sozusagen der Rechenweg
Der Einschnitt, den Sokrates (469-399 v. Chr.) für die alte griechische Philosophie bedeutet, hat unter anderem genau mit der Frage danach zu tun, worum es bei der Philosophie überhaupt gehen kann, wenn nicht bloß um Meinungen. Nimmt man Sokrates nach alter Väter Sitte als Begründer der europäischen Philosophietradition, kann man diese Frage sogar zu deren eigentlichem Startpunkt erklären. Platons Dialog »Menon«, in dem Sokrates den Unterschied zwischen Meinung (doxa), richtiger Meinung (orthe doxa) und Erkenntnis (episteme) thematisiert, ist nicht umsonst ein Text, der gerne in Einführungen in das Philosophiestudium gelesen wird.
Begründete Meinungen
Doch was ist denn nun der Unterschied? Wenn es Ihnen so ergangen ist wie mir, dann erinnern Sie sich vielleicht noch daran, dass am Schluss von Schulaufsätzen häufig ein Abschnitt mit der »eigenen Meinung« gefragt war. Spätestens in der Sekundarstufe II wurde dann allerdings relativiert: Nicht nur einfach irgendeine Meinung, sondern eine begründete sollte es sein.
Nun gibt es begründete Meinungen, die dennoch Unfug sind. Anhänger der »Flat-Earth-Verschwörungstheorie« können zum Beispiel gut begründen, warum sie der Meinung sind, dass die Erde platt sei wie ein Pizzateller – etwa, weil der Horizont auf dem offenen Meer schnurgerade aussieht. Diese Begründung ist unsinnig, aber sie ist eine Begründung.
Ob eine Meinung richtig oder falsch ist, hat also nicht nur etwas mit Begründungen an sich zu tun, sondern auch mit Argumenten: mit Begründungen der Begründungen, damit, ob Gründe zum Beispiel angreifbar sind und wodurch. Aber kommt man am Ende nicht trotzdem immer an einen Punkt, wo dann doch einfach verschiedene Leute verschiedene Meinungen haben und sich nichts mehr groß dazu sagen lässt?
Viele Menschen, die ein Philosophiestudium beginnen oder als Externe in es hineinschnuppern, sind davon überrascht, dass die Argumentationswege, die eingeschlagen werden, um eine bestimmte Meinung zu verteidigen, uns meist wesentlich mehr interessieren als die Meinung selbst. Stellt man große Fragen wie »Hat der Mensch einen freien Willen?« oder »Sollte die Einwanderung nach Deutschland ausnahmslos verboten werden?« in einer Klausur, spielt die konkrete Antwort für die Wertung normalerweise keine Rolle. Entscheidend ist sozusagen der Rechenweg – ganz ähnlich wie in der Mathematik. In der Philosophie gibt es allerdings keinen auch nur annähernd so stabilen Konsens über die zugelassenen Regeln und Strukturen, sondern diese werden ständig mitdiskutiert. Daher ist es (anders als zumindest in der Schulmathematik) auch so wichtig, zu dokumentieren, wessen Regeln man benutzt, welcher Argumentation man sich anschließt und wem man nicht folgt – darum die vielen Fußnoten und die großen Bücherstapel in unseren Büros.
Großspurige Abiturienten reagieren deshalb jeden Frühling und jeden Herbst immer wieder verblüfft, wenn sie feststellen müssen, dass die Lehrenden im Philosophiestudium von ihrer Bereitschaft, wortreich ihre Meinung zu sagen, eher genervt als beeindruckt sind – auch wenn sie damit vielleicht in der Schule jahrelang ganz gut gefahren sind. Doch auch das finden wir schon bei Sokrates, der in den platonischen Dialogen reihenweise intellektuell von sich selbst überzeugte Menschen aufs Kreuz legt. Die Geschichte der europäischen Philosophie ist nicht nur eine Geschichte des Herumüberlegens daran, was bloß Meinung und was mehr ist; sondern auch eine Geschichte des Verunsicherns von Berufsbescheidwissern – und das ist, wie ich meine, eine schöne und bewahrenswerte Tradition.
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