Warkus' Welt: Philosophie ist mehr als nur Kalenderzitate
Wer Medizin studiert, hat man mir erklärt, bekommt irgendwann einen Pschyrembel geschenkt, ein spezielles medizinisches Wörterbuch, das später meist dekorativ im Sprechzimmer herumsteht. Das Pendant dazu für Philosophiestudenten sind meist Kalender mit Weisheiten großer Philosophen. Auch diese sehen eigentlich schön dekorativ aus: In ihnen prangen Bilder von Flusskieseln oder englischen Gärten, davor stehen in Schnörkelschrift Sätze wie: »Die Welt ist alles, was der Fall ist.« (Ludwig Wittgenstein), »Gerechtigkeit ist, wenn man das Seine tut und nicht vielerlei Dinge treibt.« (Platon), oder der alte Klassiker: »Ich denke, also bin ich.« (René Descartes)
Was kann einen daran stören? »Philosophie« heißt »Liebe zur Weisheit«, da könnte man meinen, dass Weisheiten für Kalenderblätter und Wandtattoos eines ihrer Hauptprodukte sind. Im Mathematikum in Gießen gab es vor einigen Jahren sogar einmal eine Philosophie-Sonderausstellung, in der die Hauptattraktion eine große Schatzkiste war, die bei Einwurf einer Wertmarke eine Karte mit einer solchen Weisheit ausspuckte.
Tatsächlich ist die Unterstellung, sie seien quasi hauptberuflich Leute, die sich schlaue Sprüche ausdenken, ein sehr zuverlässiges Mittel, um Philosophen richtig ungehalten zu machen. Es gibt kaum etwas, was wir weniger sein wollen als Weisheitsproduzenten. Warum ist das so?
Erst einmal sind die allermeisten philosophischen Kalendersprüche aus größeren Texten herausgerissen. Wenn Wittgenstein seine »Logisch-philosophische Abhandlung« (»Tractatus«) mit dem Satz beginnt, die Welt sei alles, was der Fall ist, dann tut er dies nicht, um eine hallende Phrase in den Raum zu stellen. Im Gegenteil: Er schreibt noch viele weitere Sätze, die klarer machen, was es heißt, dass etwas der Fall ist, und wie das, was der Fall ist, zusammen die Welt bildet. Darüber, was er damit genau meint, kann man nun uneins sein (auch wenn recht sicher ist, dass es darum geht, dass alles, was ist, durch Zuschreibungssätze ausgedrückt werden kann). Es wäre aber unseriös, den ersten Satz frei stehend zu betrachten, wenn man wissen möchte, was er meint.
Mittel zur Selbstdarstellung
Nun ist nicht klar, ob das Ziel von Sinnsprüchen überhaupt ist, dass man sich mit ihrer Bedeutung beschäftigt. Wenn sich jemand zum Beispiel die vermutlich bekannteste Sentenz von Epikur an die Wand malt – »Solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da« –, tut er das, um bei sich und anderen Nachdenken darüber anzuregen, dass im Moment des Todes unsere bewusste Existenz, so wie wir sie kennen, vermutlich aufhört? Oder eher, um eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen sowie zur Selbstdarstellung? Die Zitierten können sich nicht mehr wehren, aber Epikur hat sich vermutlich keine Gedanken über den Tod gemacht, damit man sich heute damit als tiefsinnig profilieren kann.
Nicht zuletzt stammen die meisten Weisheiten, die als Zitate herumgereicht werden, von schon lange verstorbenen (und zumeist weißen und männlichen) Klassikern. Das Kalenderspruch-Unwesen hilft, die Vorstellung zu stabilisieren, dass Philosophie sich ausschließlich mit historischen Texten aus der Feder bärtiger Männer beschäftigt. Dabei ist die Philosophie eine Wissenschaft, die noch nie so produktiv war wie heute und sich aktuell mit unzähligen Themen auseinandersetzt, die es zu Platons oder Kants Zeiten noch gar nicht gegeben hat (die Philosophie der Gentechnik, die Philosophie des Designs und die nichtklassische Logik sind beispielsweise drei recht junge, aber aktive Gebiete).
Ich habe »Ach, die Welt ist alles, was der Fall ist!« einmal als Stoßseufzer gehört. Das Zitat kannte die betreffende Person von einer Postkarte, und ich glaube, es traf ihre Stimmung und ihre Gedanken irgendwie gut. Ich kann und will niemandem verbieten, mit Zitaten aus der Philosophie auf diese Weise sein Leben zu kommentieren, wie man es ja auch mit Bibelsprüchen oder Gedichtzeilen tun kann. Aber Philosophen machen keine Philosophie, um Kalendersprüche zu produzieren, und die atmosphärische Wirkung philosophischer Zitate ist nicht das, worum es bei ihnen geht.
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