Warkus‘ Welt: Mit dem Rasiermesser durch den Hypothesen-Dschungel
Der Mensch ist, um einmal eine Formulierung von Aristoteles (384–322 v. Chr.) aus der Schublade zu holen, ein »zoon logon echon«, was man übersetzen kann mit »vernünftiges Tier«, »sprachbegabtes Tier«, aber auch mit »Tier, das seine Gründe hat«. Wir wollen wissen, warum etwas so ist, wie es ist. Wenn in der Wohnung überraschend Wasser aus einem Lüftungsgitter tropft und eine schlummernde Katze trifft, wird sie sich schütteln und sich in sicherem Abstand zum Spritzbereich wieder hinlegen. Damit ist die Sache für sie erledigt. Als Menschen wollen wir aber wissen, wie das passiert ist, auch wenn wir (was bei tropfenden Lüftungseinlässen in Mietshäusern leider die Regel ist) selbst nichts direkt dagegen tun können.
Beim Versuch, Erklärungen für Phänomene zu finden, stoßen wir häufig auf die Herausforderung, dass wir die Wahl zwischen verschiedenen Hypothesen haben. Bei der tropfenden Lüftung gibt es diverse plausible Erklärungen: Es könnte irgendwo Kondenswasser entstanden sein; der Austritt des Lüftungsschachts auf dem Dach könnte undicht sein und Regenwasser einlassen; oder es könnte auf Grund eines Schadens in der Installation Wasser aus irgendeinem der verschiedenen Leitungssysteme in die Luftkanäle eingedrungen sein. Man könnte sich auch vorstellen, dass jemand mit einem Eimer aufs Dach gestiegen ist, um Schabernack zu treiben.
Für mich als Mieter ist die Auswahl einer Hypothese, da ich selbst nichts reparieren kann, nicht von großer Bedeutung, für den Vermieter und die von ihm bestellte Firma umso mehr: Wenn der Grund ein Rohrschaden in einem Installationsschacht ist, muss nämlich irgendwo eine Wand aufgestemmt werden, was man natürlich vermeiden möchte, wenn es nicht nötig ist.
Nicht nur, wenn es in die Wohnung tropft, ist die Frage nach der Wahl einer Hypothese von großer Bedeutung. Wie erkläre ich mir, dass bei meinem Partner eine Hotelrechnung aus Köln auf dem Schreibtisch liegt, obwohl er behauptet, auf einem Seminar in Leipzig gewesen zu sein? Wie entscheidet sich ein Gericht zwischen zwei plausiblen Erklärungen für einen Sachverhalt, von denen eine den Angeklagten belastet und die andere nicht?
Die einfachste Erklärung ist meist die beste
Eines der historisch beliebtesten Kriterien für die Auswahl von Erklärungen trägt den Namen »Ockhams Rasiermesser«. Die Bezeichnung geht auf den mittelalterlichen englischen Philosophen William von Ockham (um 1287–1347) zurück, obwohl er nie etwas von einem Rasiermesser geschrieben hat und auch die Idee dazu nicht als Erster hatte. Das Rasiermesser-Kriterium besagt, dass man bei mehreren Erklärungen für dasselbe Phänomen die einfachste präferieren sollte. Als die einfachste, »eleganteste« gilt dabei traditionell die Erklärung, die am wenigsten »die Entitäten vermehrt«, die also möglichst darauf verzichtet, zusätzliche Gegenstände anzunehmen.
Nach dem Rasiermesser-Kriterium fällt die Schabernack-Erklärung direkt weg, weil sie die Existenz eines Schelms mit einem Eimer unterstellt, worauf alle anderen Erklärungen verzichten können. Am elegantesten erscheint die Kondenswasser-Erklärung, weil sie ohne die Annahme irgendwelcher Schäden auskommt. Das Messer rasiert sozusagen alle unnötig hochgewachsenen Erklärungen weg und lässt die kompakteste übrig.
Man könnte nun aber dagegen argumentieren, dass auch die Kondenswasser-Erklärung die Existenz eines hypothetischen Gegenstands unterstellt, nämlich eine Stelle im Lüftungskanal, an der die Luftfeuchtigkeit auskondensiert. Das ist die Schwierigkeit beim Hantieren mit dem Rasiermesser: Möchte man Einfachheit anhand der Anzahl angenommener Entitäten messen, muss man sich darauf einigen, was genau eine Entität ist und wer sie wann annimmt.
Dass wir eine Erklärung nach einem bestimmten Kriterium auswählen, muss zu guter Letzt natürlich nicht heißen, dass sie auch die richtige ist: Bei unserem Nachbarn tropfte deswegen Wasser aus der Lüftung, weil anscheinend irgendwo jemand regelmäßig so duschte, dass Spritzwasser an einen ungünstig gelegenen Lufteinlass kam. Darauf muss man erst einmal kommen! Gewissermaßen ein Gegenstück zum Rasiermesser bildet daher das Diktum, das Arthur Conan Doyle seinem Detektiv Sherlock Holmes in den Mund gelegt hat: »Hat man das Unmögliche eliminiert, so muss, was übrig bleibt, mag es noch so unwahrscheinlich erscheinen, die Wahrheit sein.«
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