Warkus' Welt: Sind Gegenstände mehr als die Summe ihrer Teile?
Stellen Sie sich vor, Sie besäßen ein Gartengrundstück mit einer hübschen, alten Laube aus Holz. Regelmäßig stellen Sie fest, dass irgendwelche Teile morsch sind: ein Pfosten, ein Sparren, ein Balken, ein paar Schindeln, ein Fensterrahmen, ein Stück Wandverkleidung. Weil Ihnen die Laube so gut gefällt und Sie ohnehin kein Geld hätten, um sie komplett neu zu bauen, reparieren Sie diese Schäden immer so schnell wie möglich. Nach 20 bis 30 Jahren merken Sie auf einmal, dass die Laube kein einziges Originalteil mehr enthält. Jedes einzelne Bauteil wurde irgendwann ersetzt.
Ist die Laube immer noch dieselbe wie früher? Schließlich hat die gesamte Baumasse gewechselt, und wir gehen in der Regel davon aus, dass Gegenstände nicht einfach so die Materie ändern, aus der sie bestehen. Schon in der antiken Philosophie wurde über genau diese Frage diskutiert, allerdings nicht anhand einer Gartenlaube, sondern anhand eines anderen Holzobjekts, des so genannten Schiffs des Theseus, das in Athen angeblich rund 1000 Jahre lang aufbewahrt und in Stand gehalten wurde.
Denkt man die Frage weiter, ob ein Gegenstand bei Austausch seiner Teile mit sich selbst identisch bleibt, fallen einem schnell sehr einfache oder sehr komplizierte analoge Fälle ein. Sehr einfach ist etwa das aus der philosophischen Literatur bekannte Beispiel von »Großvaters Axt«. Hier geht es um einen Gegenstand, der exakt zwei oder drei Teile hat: einen Stiel, einen Kopf und eventuell einen Keil. Ab und zu wird eines dieser Teile ersetzt. Sehr kompliziert wird die Sache, wenn man beispielsweise über menschliche Körper nachdenkt. Wir haben einen Stoffwechsel, der dazu führt, dass die Bestandteile unseres Körpers regelmäßig durch frisches Material aus Nahrung oder Atemluft ersetzt werden, aber je nach Gewebeart in dramatisch unterschiedlicher Geschwindigkeit.
Sind all diese Fälle äquivalent? Erhalten sich alle zusammengesetzten Gegenstände, bei denen einzelne Teile ausgetauscht werden, als solche durch die Zeit? Das hieße dann, dass die Identität eines materiellen Objekts gar nichts mit seinen materiellen Bestandteilen zu tun hat. Aber was ist denn dann ein Gegenstand, wenn man davon ausgeht, dass alles, was existiert, aus Materie besteht? (Eine heute auch in der Philosophie durchaus mehrheitsfähige Ansicht.)
Ein Schiff auf offener See umbauen
Es gibt verschiedene Lösungen für dieses Paradox. Man kann zum Beispiel annehmen, dass ein Gegenstand etwas grundsätzlich anderes ist als die Summe seiner Teile. Dann halten sich die Laube und die Teile, aus denen sie besteht, einfach zur selben Zeit am selben Ort auf, sind aber nicht miteinander identisch. Man kann auch unterstellen, dass Gegenstände nicht bloß drei Dimensionen haben, sondern sich über die Zeit erstrecken (so genannter Vierdimensionalismus). Die Laube dehnt sich dann entlang der Zeitachse wie ein Seil mit laubenförmigem Querschnitt, in dem die Einzelteile Fasern sind, die jeweils einen Anfang und ein Ende haben.
Über die Identität von zusammengesetzten Gegenständen in der Zeit nachzudenken, hat die Philosophie nicht nur buchstäblich, sondern auch im übertragenen Sinn beschäftigt. Berühmt ist ein Satz des Wiener Philosophen Otto Neurath (1882–1945): »Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.« Das Schiff meint hier nichts Materielles, sondern etwas Sprachliches, nämlich die Wissenschaft, konzipiert als ein System aufeinander aufbauender wahrer Sätze. Neurath meint damit, dass es unmöglich ist, die gesamte wissenschaftliche Sprache von Grund auf neu zu rekonstruieren.
Sein Satz wird jedoch bei allen möglichen Gelegenheiten zitiert, wann immer es ganz grundsätzlich darum geht, dass irgendetwas »im laufenden Betrieb« repariert oder verändert werden muss, und ist beliebt bei Verfechtern eines Politikstils, der das Arbeiten mit »Stellschrauben« radikalen Reformen vorzieht. Von da schließt sich der Kreis zur Gartenlaube, wenn nämlich beispielsweise in der politischen Rhetorik gefragt wird, ob man angesichts sich summierender Veränderungen noch im selben Land lebe wie früher.
So ist die Sache mit der Laube ein hübsches Beispiel dafür, wie Philosophie nach außen wirkt: weniger darüber, dass die sehr spezifischen und oft spitzfindigen wissenschaftlichen Diskussionen nachvollzogen werden, als über das Ausleihen wirkungsvoller Metaphern. Es schadet aber nicht, zu wissen, wo etwas herkommt. Dass man argumentieren kann, ein Gegenstand sei mehr als die Summe seiner Teile oder Wissenschaft müsse immer mit der unvollkommenen Sprache arbeiten, die ihr zur Verfügung steht, muss nicht heißen, dass revolutionäre Politik unmöglich ist, auch wenn man für alle drei Behauptungen dasselbe Bild nutzt.
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