Die fabelhafte Welt der Mathematik: Als Pi in Deutschland einen falschen Wert hatte

Kürzlich wurde ich auf einer Zugfahrt von meinem Sitznachbar in ein Gespräch verwickelt. Er erzählte mir, er habe Ingenieurwesen studiert und sei auf der Durchreise zu seiner Lebensgefährtin in Paris. Während wir Höflichkeiten austauschten, erwähnte ich irgendwann meinen Beruf. Und dieses Mal bekam ich kein »Mathe habe ich früher immer gehasst« oder »in Mathe war ich immer schlecht« zu hören, sondern er wirkte richtig interessiert und fragte mich, worum sich mein letzter Artikel drehte. »Zwei indische Physiker haben eine neue Formel gefunden, um Pi zu berechnen«, erzählte ich stolz, da ich – zumindest aus meiner Sicht – direkt ein spannendes Beispiel parat hatte. Doch er reagierte völlig anders, als ich es erwartet hatte. »Eine neue Formel für Pi?«, fragte er verwundert nach. »Aber Pi ist doch exakt 22⁄7?«
Ich weiß, es klingt wie ein lahmer Witz, aber es hat sich wirklich so zugetragen. Und es wirkte auch nicht so, als habe mich mein Sitznachbar auf den Arm nehmen wollen. Als ich begann, ihm zu erklären, dass Pi eine irrationale Zahl ist, sich deshalb nicht als Bruchzahl ausdrücken lässt und unendlich viele Nachkommastellen besitzt, die sich niemals wiederholen, hörte er aufmerksam zu. Jedenfalls hatten wir dann genügen Gesprächsstoff, um uns noch die restliche Fahrt zu unterhalten.
Eines muss man meinem Sitznachbar zugutehalten: In einigen Fällen ist 22⁄7 als Näherung für Pi durchaus ausreichend; zumindest die ersten beiden Nachkommastellen hat man damit korrekt angegeben. Und tatsächlich findet sich im Internet eine ganze Community an Menschen, die behaupten, in der Schule gelernt zu haben, dass Pi exakt 22⁄7 ist, was ich ziemlich befremdlich finde. Trotzdem eignen sich Bruchzahlen als Näherungen von Pi in der Praxis durchaus. Möchte man es etwas genauer haben, kann man beispielsweise Kettenbrüche (eine Art Matrjoschka-Puppe aus Brüchen) nutzen, um bessere Näherungen von π zu erhalten, wie 355⁄113.
Sehr viel seltsamer wird es, wenn man sich in die Tiefen des Internets begibt und plötzlich auf eine Bewegung stößt, bei der Personen behaupten, Pi sei gar nicht irrational. Klar, die Menschheit hat sich seit Jahrtausenden immer wieder verrechnet. Ach ja, und übrigens: Die Erde ist flach.
Wenn Pi per Gesetz falsch berechnet wird
Eine ähnlich befremdliche »Erkenntnis« hatte ein Arzt im 19. Jahrhundert in Indiana. In einer vergangenen Kolumne hatte ich erzählt, dass der Wert von Pi im US-Bundesstaat beinah per Gesetz auf den Wert von 3,2 festgelegt worden wäre. Kurze Zeit, nachdem mein Artikel erschien, kontaktierte mich ein Leser und erzählte mir eine unglaubliche Geschichte zu Pi, für die ich eine außergewöhnliche Recherche aufnahm.
Möchte man ein Beispiel dafür, dass Pi in einem Gesetztext einen falschen Wert annahm, muss man sich dafür weder in die USA begeben noch bis ins 19. Jahrhundert zurückblicken
In den Stunden nach Erhalt des Leserbriefs wälzte ich alte Gesetzestexte des Kraftfahrzeugsteuergesetzes und der Straßenverkehrszulassungsordnung. (Kann man sich etwas Langweiligeres vorstellen?) Jedenfalls hatte der Leser Recht: Möchte man ein Beispiel dafür, dass Pi in einem Gesetzestext einen falschen Wert annahm, muss man sich dafür weder in die USA begeben noch bis ins 19. Jahrhundert zurückblicken. Denn tatsächlich wurde in einer deutschen Steuerformel bis 1988 die Kreiszahl Pi durch 3,12 angenähert.
Und da ich jetzt so viel zu dem Thema recherchiert habe, muss ich mein neu erlerntes Wissen dazu preisgeben (sorry!). Die zu leistende Kraftfahrzeugsteuer richtet sich unter anderem nach der Größe des Hubraums, also des Volumens, den der Motorkolben während eines Hubs überstreicht. Nun ist dieser Raum zylinderförmig; das heißt, man braucht die Kreiszahl Pi, um ihn zu berechnen. Das Volumen entspricht nämlich π mal dem Radius zum Quadrat mal die Höhe des Zylinders und das Ganze noch mal der Anzahl der Zylinder.
Das Problem: Da Pi eine irrationale Zahl ist, muss man den Wert des Hubraums am Ende der Berechnung zwangsweise runden. Damit das nicht jede und jeder irgendwie frei Schnauze macht, gibt es seit 1988 in der Straßenverkehrszulassungsordnung den Paragrafen 30 a, der das klar regelt:
- Für π wird der Wert 3,1416 eingesetzt.
- Die Werte für Bohrung und Hub werden in Millimeter eingesetzt, wobei auf die erste Dezimalstelle hinter dem Komma auf- oder abzurunden ist.
- Der Hubraum ist auf volle Kubikzentimeter auf- oder abzurunden.
- Folgt der zu rundenden Stelle eine der Ziffern 0 bis 4, so ist abzurunden, folgt eine der Ziffern 5 bis 9, so ist aufzurunden.
Damit gibt es seit 1988 keinen Interpretationsspielraum. Aber wie war das davor? Tatsächlich wundern sich Fahrzeugbesitzer in Automobilforen immer wieder darüber, dass der Hubraum ihres Wagens auf ihrem Fahrzeugschein kleiner angegeben ist, als er eigentlich sein sollte. Zum Beispiel schrieb ein Nutzer in einem Forum zu Landmaschinen:
Hallo, ich habe mal eine Frage an die 10,3 Liter Spezis.
Wenn ich die Kreisfläche vom Kolben (Standard 225) berechne und diese mit dem Hub multipliziere, ergibt sich ein Hubraum von 10 337,6 ccm. So weit, so gut. Passt ja!
Aber wieso haben denn die großen Bulldogs vor 1938 einen Hubraum von 10 266 ccm, wenn doch Bohrung und Hub gleich sind?
Oder eine andere Person in einem Forum für Fans des VW-Käfers:
Hallo!
Hab ein formales Problem mit meinem 1300-AR-Motor. Die Behörden verweigern mir die Eintragung/Typisierung einer Auspuffanlage mit ABE für den AR mit 1285 ccm, weil in meinen Fahrzeugdokumenten AR mit 1276 ccm steht. Wenn ich den Motor google, hat er mal 1276 und mal 1285 ccm. Bohrung 77 und Hub 69 ergeben 1285. Wo bitte kommen die 1276 her??
Wie sich herausstellt, gab es – bevor der Paragraf 30 a in der Straßenzulassungsordnung eingeführt wurde – eine offizielle Formel zur Berechnung des Hubraums für die Kraftfahrzeugsteuer, wie die Ingenieure Eduard Köhler und Rudolf Flier in ihrem Fachbuch »Verbrennungsmotoren« erklären. Diese richtete sich nach folgender (exakter) Volumenberechnung: π · (d⁄2)2 · h · Z, wobei d der Durchmesser (also der doppelte Radius), h die Höhe des Zylinders und Z die Anzahl der Zylinder bezeichnet. Löst man die Formel auf, taucht die Zahl π⁄4 auf, multipliziert mit den bauteilspezifischen Größen d2 · h · Z. Der erste Faktor π⁄4 ist bekanntermaßen irrational und liefert einen genäherten Wert von 0,7854.
Richtiges Runden wird überbewertet
Und jetzt kommt's: Die deutschen Behörden dachten sich wohl (ganz entgegen dem Klischee): »Ach komm, lass doch mal nicht so kleinlich sein und diese Zahl nach der zweiten Nachkommastelle abbrechen. Das wird schon genau genug sein.« Und dabei wurde nicht einmal richtig gerundet, sondern einfach nur mit dem Zahlenwert 0,78 gearbeitet (vermutlich, um die tatsächliche Größe des Hubraums nicht zu überschätzen, was einen steuerlichen Nachteil bringen könnte). Das heißt, der Hubraum berechnete sich offiziell bis zum Jahr 1988 durch die Formel: 0,78 · d2 · h · Z. Wenn man jetzt aber 0,78 mal 4 rechnet, kommt nicht etwa 3,14 raus (was jetzt auch nicht die beste Näherung für π ist, aber immerhin nicht allzu schlecht), sondern 3,12!
Deshalb wurde jahrzehntelang der Hubraum von Fahrzeugen als zu klein angegeben. Für die Steuerzahler ist das natürlich nicht schlecht gewesen – im Zweifel zahlten sie zu wenig für ihr Fahrzeug. Inzwischen wird bei älteren Fahrzeugen der Hubraum teilweise mit zwei Werten angegeben – dem tatsächlichen und dem, der sich durch die alte Steuerformel ergibt.
Da hätten die deutschen Behörden doch mal lieber auf die bei Ingenieuren – und vielen anderen Menschen – beliebte Vereinfachung von π ≈ 22⁄7 zurückgegriffen. So hätten sie immerhin die ersten beiden Nachkommastellen der Kreiszahl richtig angenähert – und dadurch nicht so große Abweichungen bei der Angabe des Hubraums erhalten.
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