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Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte einer miesen Fälschung – oder: der Piltdown-Mensch

Ein Sensationsfund in England revolutionierte Anfang des 20. Jahrhunderts die Frühmenschenforschung. Doch der Schädel war eine dreiste Fälschung, wie unsere Kolumnisten erzählen.
Rekonstruktion des Piltdown-Menschen aus dem Jahr 1913 von A. Forestier.

Es ist Februar 1912. Ein Brief erreicht Arthur Smith Woodward, Paläontologe und Kurator der Abteilung für Geologie am British Museum for Natural History in London. Absender ist ein gewisser Charles Dawson, ein Freund von Woodward. Dawsons Brotberuf ist zwar der eines Anwalts, aber schon seit Jahren betätigt er sich als Amateurarchäologe.

Dawson berichtet in seinem Brief davon, in der Nähe eines kleinen Orts namens Piltdown in Südengland Bruchstücke eines versteinerten Schädels gefunden zu haben. Laut seiner Einschätzung sei das Fossil mindestens so alt wie jener Unterkiefer, der im Jahr 1907 in Mauer unweit von Heidelberg entdeckt wurde. (Dieser war der Erstfund eines Homo heidelbergensis.)

Die beiden Historiker Richard Hemmer und Daniel Meßner bringen jede Woche »Geschichten aus der Geschichte« in ihrem gleichnamigen Podcast. Auch auf »Spektrum.de« blicken sie mit ihrer Kolumne in die Vergangenheit und erhellen, warum die Dinge heute so sind, wie sie sind.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.

Zu diesem Zeitpunkt ist es weder Woodward (1864–1944) noch Dawson (1864–1916) bewusst, dass dieser Schädel die Frühmenschenforschung nicht nur für Jahrzehnte prägen, sondern auch das Vermächtnis beider Männer für immer zerstören würde.

Schädel und Kiefer passen eigentlich nicht zusammen

In den darauf folgenden Monaten macht sich Woodward gemeinsam mit Dawson und weiteren Helfern – darunter der französische Jesuit und Wissenschaftler Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) – daran, die Kiesgrube, in der der Schädel gefunden wurde, nach weiteren Fundstücken zu durchkämmen. Und dabei fördern sie Bahnbrechendes zu Tage. Neben einem Kieferknochen finden sie Teile eines Schädels. Trotz fehlenden Gelenkknorrens, also dem Fortsatz, an dem der Kiefer in den Schädelknochen eingehängt ist, gehen die Ausgräber davon aus, dass beide zu ein und demselben Kopf gehören. Obwohl der Fund eher an den Knochen eines Menschenaffen erinnert, sind die Forscher auf Grund der Backenzähne und ihrer Art der Abnutzung überzeugt davon, dass es sich um den Schädel eines Frühmenschen handeln muss.

Weitere in der Kiesgrube gefundene Fossilien sorgen dafür, dass die Wissenschaftler das Alter des Frühmenschen zwischen 200 000 und 500 000 Jahren schätzen. Damit ist die Sensation perfekt: Großbritannien hat nun seinen eigenen Frühmenschen. Nach der Entdeckung des Neandertalers in Deutschland, des Cro-Magnon-Menschen in Frankreich und schließlich des Java-Menschen in Indonesien hat das Selbstverständnis des ohnehin im Niedergang befindlichen britischen Empire stark gelitten. Doch nun flammt wieder Stolz auf.

Der Fund aus Piltdown wird daher in der britischen Öffentlichkeit, aber auch in der Wissenschaftscommunity mit entsprechender Begeisterung gefeiert. Denn sein Alter scheint zu belegen, dass die Wiege der Menschheit offenbar in England liegt.

Erst kam das Hirn, dann der aufrechte Gang – oder doch umgekehrt?

Ein Grund, der auch für die übrige Wissenschaftszunft von Belang ist, betrifft das Schädelformat des Piltdown-Menschen. Denn im Gegensatz zum Frühmenschen aus Java ist dieser Schädel deutlich größer. Damit scheint bestätigt, was sich viele Gelehrte erhoffen, aber bisher nicht belegen konnten: dass sich nicht zuerst der Körper des Menschen samt aufrechtem Gang, sondern zuerst die Kopfform und damit das Gehirn und die überragende Intelligenz des Menschen entwickelt hatte. Damals ist für viele schier undenkbar, dass jenes Merkmal, das den Menschen vom Tier unterscheidet, nicht als Erstes entstanden sein soll.

Der Piltdown-Mensch, den Woodward auf den Namen Eoanthropus dawsoni, Dawsons Mensch der Morgenröte, tauft, wird nun zum Missing Link erhoben. Er gilt als Bestätigung der Evolutionstheorie, die Charles Darwin (1809–1882) einige Jahrzehnte vorher aufgestellt hatte.

Zweifel an der Echtheit des Piltdown-Menschen machen sich breit

Im Lauf der Jahre, die auf die erste Veröffentlichung des Funds folgen, fördern Dawson und Woodward noch weitere Fossilien zu Tage. Dabei entdecken sie unweit der Fundstelle des Piltdown-Menschen die Fragmente eines weiteren Schädels. Wo genau dieser ans Licht kam, bleibt allerdings im Dunkeln. Denn bevor Dawson seine Erkenntnisse mit Woodward teilen kann, stirbt er im Jahr 1916 an einer Sepsis.

Obwohl viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mittlerweile den Piltdown-Menschen als Vorfahre von Homo sapiens anerkennen, zögern andere. Denn wir erinnern uns: Der große Schädel stößt das bis zu jenem Zeitpunkt von anderen Frühmenschenfunden bestätigte Paradigma um, dass sich zuerst der aufrechte Gang, und dann die Größe des Hirns entwickelt hatte. Aus diesem Grund werden schließlich Jahrzehnte später, gegen Ende der 1940er Jahre, die Fossilien einer weiteren Prüfung unterzogen.

Piltdown-Schädel | Der Paläontologe Arthur Smith Woodward rekonstruierte die Fragmente des vermeintlich fossilen Funds zu diesem Schädel.

Kenneth Page Oakley (1911–1981), Mitarbeiter des British Museums of Natural History (heute Natural History Museum), bestimmt den Fluorgehalt der Knochen, um sie so genauer datieren zu können. Und siehe da, er kommt zu dem Schluss, dass die Knochen nicht älter als 50 000 Jahre sein können. Das wirft natürlich die Frage auf, wie ein so relativ junger Schädelknochen zu einem Kieferknochen passt, der dem eines Menschenaffen ähnlicher sieht als dem eines modernen Menschen.

Befeuert durch diese Zweifel, wird der vermeintliche Sensationsfund von Piltdown bald als jener Betrug enttarnt, der er tatsächlich ist. Weitere Untersuchungen während der 1950er Jahre ergeben schließlich ein viel wahrscheinlicheres Alter der Fossilien: irgendwo zwischen 520 und 720 Jahren. Auch die Abnutzung der Backenzähne stellt sich als Finte heraus. Sie waren mit einer herkömmlichen Metallfeile bearbeitet worden.

Wer manipulierte den Schädel?

Die offensichtliche Frage, die sich stellt: Wer ist für diese aufwändige Fälschung verantwortlich? Die kurze Antwort: Es ist nicht sicher. Denn die lange Antwort ist in etwa so lang wie die Liste der Verdächtigen.

Naheliegend ist es, dass Dawson die Tat beging. Er war der ursprüngliche Entdecker der vermeintlichen Fossilien. Und als Amateurarchäologe hatte er wohl großes Interesse daran, dass ihm Berufsforscher Anerkennung zollten. Allerdings hatte er einen gewissen Ruf, was fossile Funde anging, deren Echtheit nicht immer über alle Zweifel erhaben waren. Archäologe Miles Russel zeigt in seinem Buch über den Piltdown-Menschen schlüssig auf, dass aus der Reihe der Verdächtigen am wahrscheinlichsten Dawson der Fälscher war. Aber auch Woodward könnte in die Sache verwickelt gewesen sein. Offenbar hatte er die Knochen nur flüchtig untersucht, selbst die krud manipulierten Backenzähne sind ihm nicht aufgefallen – oder wollten ihm eben nicht auffallen.

Im Lauf der Jahre wurden schließlich noch diverse Mitarbeiter des Natural Museum of History, andere Teilnehmer der Ausgrabungen wie Teilhard de Chardin und sogar der Autor Arthur Conan Doyle (1859–1930) verdächtigt. Letzterer weil sein Wohnort nicht weit von Piltdown gelegen hatte, aber auch weil Wissenschaftler ihn wegen seines Glaubens an Geisterwesen belächelten. Sie mit einer solchen Fälschung hinters Licht zu führen, wäre Conan Doyles ultimativer Racheakt gewesen.

Obwohl die Fälschung schlussendlich aufgeflogen war, hinterließ sie Spuren in der Frühmenschenforschung. Laut der Anthropologin Janet Monge vom Penn Museum in Philadelphia lähmte der Fund die Disziplin für Jahrzehnte, weil er Forscherinnen und Forscher in die Irre geführt hatte. Einigen lieferte er allerdings genau die Bestätigung, die sie suchten: dass der Mensch in Europa, nicht in Afrika entstanden war. Daher sorgte der Piltdown-Schädel dafür, dass zwischenzeitliche Entdeckungen in Afrika lange Zeit nicht die Aufmerksamkeit erhielten, die sie verdienten. Dadurch war die Arbeit an einer einheitlichen Theorie über die Entwicklung des modernen Menschen über Jahre blockiert. Erst nach der Mitte des 20. Jahrhunderts war sich die Anthropologenzunft einig(er) darüber, wo das tatsächliche Ursprungsgebiet des anatomisch modernen Menschen liegt.

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