Sex matters: Dürfen Jugendliche Pornos gucken?
»Neulich habe ich mitbekommen, dass mein Sohn offenbar regelmäßig Pornos schaut. Er ist erst 16, und ich bin ziemlich beunruhigt. Er hat auf seinem Smartphone freien Zugang zum Internet, wie alle seine Freunde. Ich frage mich jetzt, was es mit ihm macht, wenn er harte Pornografie zu sehen bekommt. Das wirkt sich doch bestimmt negativ aus. Wie sollen wir als Eltern damit umgehen? Ich würde es ihm am liebsten komplett verbieten.« (Michael, 42*)
Ich verstehe die Sorge des Vaters. Denn es gibt ein Wirkungspotenzial von Pornografie. Das heißt: Pornos können negative Auswirkungen haben – müssen sie aber nicht. Das gilt übrigens für alle Konsumentinnen und Konsumenten, nicht nur für Jugendliche. Junge Menschen sind nicht zwangsläufig gefährdeter als andere. Nach meiner Erfahrung können sogar viele von ihnen sehr gut einschätzen, dass das, was sie sehen, nicht die Wirklichkeit ist. Sie ordnen es ein und gleichen es mit der Realität ab. Ich bin dafür, sie genau dabei zu unterstützen. Deswegen plädiere ich für Bildung statt Verbote.
Pornografiekonsum ist in Deutschland erst ab 18 Jahren erlaubt. Trotzdem kommen Menschen bereits in viel jüngerem Alter mit Pornografie in Berührung. Im Rahmen einer Onlinestudie wurden mehr als 1000 Jugendliche im Alter zwischen 14 und 20 Jahren gefragt, ob sie schon einmal mit pornografischen Inhalten in Kontakt gekommen sind. 46 Prozent antworteten, dass sie bereits Bilder oder Filme gesehen hätten, bei denen entblößte Geschlechtsteile zu sehen waren. Laut Studie hatten die meisten Pornografie am Smartphone oder Computer entdeckt.
Meine praktische Erfahrung ist, dass Kinder sogar schon vor der Pubertät explizites Material zu Gesicht bekommen – sehr viele bereits bis zum Ende der Grundschule. In der Regel haben sie nicht bewusst danach gesucht, sondern wurden in Messenger-Gruppen damit konfrontiert oder sind zufällig im Internet darauf gestoßen.
Kann man das verhindern? Ja – und nein. Ich empfehle Eltern, die mich um Rat fragen, auf den Geräten von Kindern und Jugendlichen klassische Jugendschutzfilter als Unterstützung einzurichten. Sie sollten aber davon ausgehen, dass junge Menschen trotz Beschränkungen irgendwie Zugriff auf pornografische Inhalte im Internet haben.
Einer der Gründe, warum sich Jugendliche überhaupt Pornos ansehen: Sie haben ganz praktische Fragen, die ihnen niemand sonst beantwortet
Berichten mir Eltern davon, dass ihre Kinder Pornos schauen, ist meine erste Frage: Woher wissen Sie das? Manchmal war Zufall im Spiel. Aber oft haben sie auch per App den Verlauf des Internetbrowsers verfolgt. So ein gravierender Eingriff in die Privatsphäre der Jugendlichen ist meiner Meinung nach unnötig, wenn Erwachsene sie befähigen, mit Pornografie umzugehen.
Wenn ich mit Jugendlichen spreche, vergleiche ich Pornos gern mit Action- oder Fantasy-Filmen. In Action-Filmen sterben reihenweise Menschen, und trotzdem wissen die Zuschauenden: In der Realität passiert denen gar nichts. Die Schauspieler überleben. Sie gehen in den Drehpausen putzmunter zum Catering-Büfett. Im Film führen sie zwar Schlachten mit Raumschiffen – aber jeder weiß: Vom Sternenkrieg sind wir Lichtjahre entfernt, und auf der Erde werden Konflikte zum Glück meist mit Diplomatie gelöst. Auch junge Menschen können das einordnen, weil sie die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst erleben.
Doch wie ist das mit Sexualität? Wo können sich Jugendliche informieren, wie ein erigierter Penis, eine Vagina oder eine bestimmte Stellung beim Sex aussieht? Das ist einer der Gründe, warum sich Jugendliche überhaupt Pornos ansehen: Sie haben ganz praktische Fragen zu gelebter Sexualität, die ihnen niemand sonst beantwortet. Ich will Sex haben – aber wie mache ich das überhaupt? Wie küsst man richtig mit Zunge und wie funktioniert Oralsex? Youtube-Videos, die sich um Zärtlichkeit, Küssen und Sexualität drehen, haben hohe Klickzahlen. Denn der Bedarf nach Informationen ist groß.
Natürlich gucken junge Menschen auch Pornos, weil es sie erregt, ihnen Lust bereitet. Filme können auch Teil eines Gruppenerlebnisses sein, das irgendwie spannend oder witzig ist. Das alles muss sich nicht negativ auswirken. Es ist weder pervers noch abartig, Pornos anzuschauen. Kritisch wird es erst, wenn sie Informationen zum Thema Sex ausschließlich aus Pornos beziehen. Dann kann ein verzerrtes Bild von Sexualität entstehen.
Ein Beispiel: Wenn ich mit Jugendlichen in Workshops arbeite, in denen es um Pornografie geht, rühren wir Kunstsperma an. Dann füllen die Teilnehmenden die Menge, die sie bei einer durchschnittlichen Ejakulation erwarten, in ein Reagenzglas. Ergebnis: Die Gläser sind viel voller, als sie in der Realität jemals wären. Denn die Mengen, die Jugendliche in die Reagenzgläser schütten, sind bereits geprägt von ihrem Pornografiekonsum.
Diversität in Sachen Sex: Fehlanzeige
Pornografie verwendet künstliches Sperma. Sie setzt Dinge und Menschen in Szene. Stellungswechsel passieren in einer Frequenz, die nicht der Realität entspricht. Die Darsteller sind komplett enthaart, Penisse übergroß. »Pornografische Filme und Bilder vermitteln das Bild eines stets potenten Mannes, der von einer stets willigen Frau befriedigt wird«, so formuliert es das empfehlenswerte Online-Aufklärungsforum »klicksafe.de«. Die Frau muss immer schlucken. Diversität in Sachen Sex: Fehlanzeige. Und mit einer Beziehung auf Augenhöhe haben Interaktionen in Pornos wenig zu tun. Auch das Aushandeln von Sexualität findet in Pornos selten statt.
Im Porno kommen Leute, die miteinander Sex haben, oft auf abstruse Weise zusammen. Da klingelt jemand, ob bekannt oder fremd, und – zack! – geht es direkt zur Sache. Ich versuche im Gespräch mit Jugendlichen, genau da anzusetzen. Ich bitte sie, die Szene in ihrer Vorstellung mit der Realität abzugleichen. Die eben ganz anders aussieht. Bei der Türszene ist das einfach, denn die meisten wissen, was normalerweise passiert, wenn jemand klingelt.
Aber zu Themen wie Analsex haben Jugendliche häufig keine andere Quelle als Pornos. Das kann dazu führen, dass sie denken, anale Penetration gehöre beim Sex zum Standardrepertoire. Dabei sieht die Wirklichkeit anders aus. Nur 18 Prozent der Männer zwischen 18 und 25 Jahren wurden jemals anal penetriert, bei den Frauen sind es 15 Prozent. Vorstellung und Wirklichkeit liegen hier deutlich auseinander. Auch das, was vor dem Analverkehr passiert – zum Beispiel Gleitgel zu verwenden –, zeigen pornografische Videos nicht.
Neben Informationen zu Sexualpraktiken brauchen Menschen eine Vorstellung, wie Bindungen entstehen. Sie sollten wissen, wie einvernehmliche Sexualität ausgehandelt wird. Jugendliche brauchen Ansprechpersonen, an die sie sich mit ihren Fragen wenden dürfen. Das können Eltern und andere Verwandte sein, Fachleute in Beratungsstellen oder Sexualpädagoginnen oder -pädagogen, die in die Schulen kommen. Damit junge Menschen das, was sie in Pornos sehen, mit der Realität abgleichen können. Denn eins ist sicher: Dass sie Pornografie sehen, werden wir sowieso nicht verhindern. Doch wir können sexuelle Bildung in die Waagschale werfen, damit am Ende das Gesehene nicht so schwer wiegt.
Und nun sind Sie dran: Ins Gespräch kommen
Schlagen Sie ihrer Tochter oder ihrem Sohn einmal vor, künstliches Sperma anzurühren. Auf diese Weise machen Sie ein Angebot, Fragen über Sexualität und Pornografie zu stellen. Es kann sein, dass Sie auf diese Weise ins Gespräch kommen. Vielleicht auch nicht – ganz nach Lust und Laune.
Die Anleitung: ein bis zwei Eier aufschlagen, Eiweiß vom Eigelb trennen und in eine Schüssel geben. Mit dem Schneebesen rühren und einen gehäuften Teelöffel Puderzucker nach und nach dazugeben, bis eine dickflüssige weiße Masse entsteht.
* Name von der Redaktion geändert
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