Vince Ebert extrapoliert: Prognosen zur Zukunft sind ... schwierig
Was wäre, wenn wir in die Zukunft blicken könnten? Über die Verlässlichkeit von Zukunftsprognosen gibt es eine faszinierende Arbeit. In den 1980er Jahren hat der Sozialpsychologe Philip E. Tetlock die renommiertesten Experten aus unterschiedlichen Fachgebieten gebeten, konkrete Einschätzungen über die Zukunft abzugeben. "Wie entwickelt sich der Ölpreis in 20 Jahren?", "Wird China die neue Weltmacht?", "Werden wir irgendwann mal ohne Atomstrom die vielen Windräder antreiben können?".
Insgesamt befragte er 248 Fachleute aus den unterschiedlichsten Wissensdisziplinen und erhielt so über 80 000 detaillierte Einschätzungen zu Ereignissen und Entwicklungen in der Zukunft. Dann wartete er 20 Jahre lang und glich die Aussagen der Fachleute mit der Realität ab. Das Ergebnis war niederschmetternd. Die Einschätzungen der Experten waren praktisch alle falsch. Allein 15 Prozent der als vollkommen undenkbar eingestuften Ereignisse traten tatsächlich ein, während 25 Prozent der von ihnen als absolut sicher eintretenden Entwicklungen ausgeblieben sind.
Doch noch viel schlimmer: Tetlock stellte eine bemerkenswerte Korrelation zwischen der Prognosequalität der Experten und deren Häufigkeit fest, mit der sie im Fernsehen auftreten. Sie ist auch als "Goldene Regel der Sektherstellung" bekannt: Die größten Flaschen sind meist auch die lautesten.
Warum ist der Blick in die Zukunft so schwer? Das hängt mit einer Vielzahl von Faktoren zusammen. Zum Beispiel verdoppeln sich wissenschaftliche Erkenntnisse und Technologien je nach Fachgebiet alle 10 bis 20 Jahre. Allein diese Dynamik macht es unmöglich, die Zukunft weiter als ein Jahrzehnt vorherzusagen. Noch im Jahr 2005 wurde Rudolph Moshammer mit einem Telefonkabel erdrosselt. Heute wäre das rein technisch gar nicht mehr möglich.
Wenn man überhaupt etwas mit Gewissheit über die Zukunft sagen kann, dann nur, dass sie uns überraschen wird. Wir fliegen heute nicht mit Rucksackraketen durch die Lüfte, essen keine Astronautennahrung und haben kein Mittel gegen Krebs. Dafür haben wir das Internet, keine Mauer mehr und eine Pille, die bei ihrer Einnahme eine Erektion verursacht. Und ganz ehrlich: Wer braucht da schon Rucksackraketen?
In letzter Konsequenz kann eben keiner vorhersagen, wie sich unsere Wünsche, Vorlieben und Bedürfnisse in der Zukunft entwickeln werden. Die Zukunft wird uns immer überraschen. Aber ist das wirklich so schlimm? Denn wäre der Lauf der Welt tatsächlich vorausbestimmt und berechenbar wie ein Uhrwerk, würde das bedeuten, dass die Zukunft feststünde. Wenn aber die Zukunft feststeht – wo ist dann die Freiheit? Freiheit, Fortschritt und Innovation gibt es nur um den Preis der Unberechenbarkeit.
Warum zum Beispiel freuen wir uns so über einen WM-Titel? Ich glaube, der Grund liegt in ebendieser Unberechenbarkeit. Anders gesagt: Hätte vor der WM 2014 ein cleverer Google-Algorithmus eindeutig vorausberechnet, dass Deutschland Brasilien im Halbfinale 7 : 1 schlägt und dass Mario Götze im Finale den spektakulären Siegtreffer in der Verlängerung erzielt – wenn all das von Anfang an klar gewesen wäre, dann wären die sechs Wochen in Brasilien für alle Beteiligten eine todlangweilige Veranstaltung gewesen. Das Prinzip der Unberechenbarkeit macht unserer Leben spannend, reizvoll und lebenswert. Es lässt uns zittern und bangen, lässt uns verzweifeln und hoffen. Gerade weil die Zukunft ungewiss ist, beschert sie uns die aufregendsten und schönsten Momente.
Langfristig allerdings steht die Zukunft doch fest. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt sinngemäß, dass es mit unserem Universum unaufhaltsam bergab geht. Und spätestens seit Rammstein von Heino gecovert wurde, ist das jedem klar. Andererseits besagt der dritte Hauptsatz der Thermodynamik: "Man kann den absoluten Nullpunkt niemals erreichen." Und das macht Mut! Egal, wie beschissen es dir geht, es ist immer noch Luft nach unten.
Mehr Einblick in die Zukunft gibt Vince Ebert mit seinem neuen Bühnenprogramm "Zukunft is the Future". Infos und Tickets unter www.vince-ebert.de.
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