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Psychologie mit Ernst: Sind Sie »selbstkomplex«?

Wer über eine vielfältige Identität verfügt, hat zwar zuweilen mit inneren Konflikten zu kämpfen. Für das Auf und Ab des Lebens ist man so jedoch gut gerüstet.
Picasso-Kopf mit allerlei drin und drumrum

Die Zeitgeist-Diagnostiker sind sich in einem Punkt ziemlich einig: Unsere Gesellschaft polarisiert sich immer stärker. Sie zerfällt zusehends in viele sich verständnislos oder gar feindlich gegenüberstehende Gruppen. Deren Angehörige definieren sich in der Regel über eine zentrale Überzeugung, über einen bestimmten Lebensstil oder Glaubensartikel. Die Rede ist in diesem Zusammenhang häufig von »Identitäten« und »Identitätspolitik«: Eine Identität entsteht nicht nur durch bewusste Selbstabgrenzung – sie wird vor allem auch durch die Zuschreibung gestiftet, die man von anderen erfährt: Bestimmten Gruppen oder Minderheiten wurden schon immer stereotype Eigenschaften zugeordnet. Herkunft, Geschlecht, Religion, sexuelle Präferenzen »legen uns fest«, entscheiden darüber, wer und vor allem wie jemand ist.

Und als wäre das nicht schon simpel und schlimm genug, nimmt die Schubladisierung (und Selbstschubladisierung) heute rasant zu: Man gehört, nolens volens, zum Stamm der Gutmenschen oder der Populisten, man ist Hipster oder Hinterwäldler, militanter Atheist, Vegetarier oder Allergiker, Katzen- oder Hundefreund. Und man wird – eine beiläufig geäußerte Meinung reicht oft schon aus – zum Mitglied bei den Marktradikalen, den Putinverstehern oder den Merkelhassern.

Einseitige Identität

Die medialen Filterblasen und Echokammern verstärken diesen Trend noch: Niemand muss oder will sich mit den Überzeugungen oder Glaubensinhalten anderer Gruppen auseinandersetzen – man sucht nicht mehr die Diskussion, sondern lieber gleich die Gesellschaft der Gleichgesinnten; alles andere lehnt man empört ab. Zwischen solchen Identitätsgemeinschaften sind die Beziehungen emotional stark aufgeladen und immer häufiger feindselig.

Dieses beunruhigende gruppenpsychologische Phänomen hat eine häufig übersehene persönlichkeitspsychologische Seite. Wenn die Identität, die der Einzelne annimmt oder sich zuschreibt, nur von der einen, äußerst schmalen Begründung bestimmt wird, blendet er wesentliche andere Teile seiner Person aus. Menschen machen sich freiwillig »unterkomplex«, indem sie einer Sache, einer Überzeugung so sehr anhängen, dass sie nicht nur andere Menschen und deren Meinungen ablehnen, sondern dass auch andere Seiten ihrer eigenen Persönlichkeit nicht mehr zum Zuge kommen.

Eine solche einseitige Identität kommt nicht nur einer Selbstverzwergung gleich. Sie hat auch einen hohen emotionalen und gesundheitlichen Preis. Zeit, an einen originellen, leider etwas vergessenen Forschungsansatz zu erinnern: Die amerikanische Psychologin Patricia Linville hat 1985 begonnen, das Konzept »Selbstkomplexität« zu erforschen: Menschen unterscheiden sich darin, wie viele Aspekte ihrer Persönlichkeit sie bewusst entwickeln, pflegen und ausleben.

Die eigene Diversität pflegen

Der Grad an Selbstkomplexität bestimmt sich zunächst dadurch, dass man sein eigenes Selbst als vielfältig und nicht immer widerspruchsfrei anerkennt. Man ist nicht nur und vor allem »Grüner«, sondern auch Katholik und Schalke-04-Fan, Vegetarier und so weiter … Die meisten Menschen haben eine Vielzahl solcher Interessen, Bindungen, Loyalitäten oder Leidenschaften. Die mögen mitunter schwierig auszubalancieren sein, und manchmal gerät man in innere Konflikte, sucht Sicherheit und inneren Halt in einer stark überpointierten Haltung oder Meinung. Aber langfristig ist es vorteilhafter, die uns innewohnende Diversität nicht nur auszuhalten, sondern zu pflegen. Toleranz und Offenheit beginnen im eigenen Kopf, mit dem milden Blick auf die eigenen inneren Widersprüche. Eine Schmalspur-Persönlichkeit mag kognitiv bequemer sein, birgt jedoch große Risiken.

Denn sich selbst als ein differenziertes Wesen zu sehen und dabei auch zu ertragen, dass man keineswegs ein absolut geschlossenes Weltbild haben muss, macht nicht nur toleranter für andere Meinungen oder Lebensstile. Es macht auch emotional robuster. Wir sind als selbstkomplexe Menschen widerstandsfähiger gegenüber dem unvermeidlichen Auf und Ab des Lebens. Wir verkraften Rückschläge und Niederlagen leichter, wenn wir noch über andere Interessen und Stärken verfügen. Patricia Linvilles Forschung zeigte: Selbstkomplexität wirkt wie ein Puffer gegen emotionale Extreme. Weder versinkt man in tiefe Verzweiflung, wenn es mal nicht so gut läuft, noch hebt man bei Erfolg ab.

Wer hingegen »alle Eier in einen Korb legt« (Linville), der ist aufgeschmissen, wenn dieser Korb runterfällt. Der Sozialpsychologe Roy Baumeister sieht einen engen Zusammenhang zwischen Selbstkomplexität und der Fähigkeit zur Selbststeuerung oder Selbstkontrolle: Menschen mit geringer Selbstkomplexität geraten unter Stress und bei Rückschlägen schneller in einen Panik- oder Vermeidungsmodus – sie geben bei komplexeren Aufgaben schnell auf und vermeiden eine kritische Selbstreflexion. Umgekehrt sind selbstkomplexe Charaktere ausdauernder und aktiver, gerade auch bei großen Herausforderungen. Sie können die eigenen Impulse und Emotionen besser kontrollieren und deshalb auch klügere Entscheidungen treffen.

Der Politologe Aurelian Craiutu von der Indiana University in Bloomington hat in seinem Buch »Faces of Moderation: The Art of Balance in an Age of Extremes« (2016) das Bild des Seiltänzers verwendet, um das demokratische Ideal der Mäßigung und der inneren Balance zu illustrieren: Um Extreme zu vermeiden, müssten wir die Tugenden des Seiltänzers kultivieren – Geduld, Übung, Mut, Intuition. Er bringt sich immer wieder in Balance und verliert sein Ziel trotzdem nie aus den Augen.

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