Freistetters Formelwelt: Das Rätsel um die Quantenmechanik des Wasserstoffatoms und Pi

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John Wallis wurde im Jahr 1616 geboren. Seine wissenschaftliche Karriere begann, wie so oft in der damaligen Zeit, mit einem Studium der Theologie. Im Englischen Bürgerkrieg entschlüsselte er geheime Botschaften der verfeindeten Parteien, und aus dieser frühen Beschäftigung mit der Kryptologie wurde ernsthaftes Interesse an Mathematik.
Tamar Friedmann ist eine israelische Physikerin, die 2015 gemeinsam mit Carl Hagen einen Fachartikel über die quantenmechanische Beschreibung eines Wasserstoffatoms veröffentlicht hat.
Auf den ersten Blick gibt es zwischen beiden geschilderten Geschichten keinen Zusammenhang. Auf den zweiten Blick allerdings schon – und er hat mit dieser Formel zu tun:
Die Gleichung dürfte einigen Leserinnen und Lesern bekannt sein: Es handelt sich um das »Wallis-Produkt« zur Darstellung der Kreiszahl π. John Wallis hat es bei seiner Untersuchung unendlicher Reihen entdeckt. Aus rein praktischer Sicht ist die Formel jedoch nicht sonderlich gut für die Berechnung der Zahl geeignet. Lässt man den Index j zum Beispiel bis 5 laufen (wertet das unendliche Produkt also für die ersten 5 Terme aus), erhält man als Ergebnis π ≈ 3,002. Das ist enttäuschend, denn damit hat man nicht einmal die erste Stelle nach dem Komma korrekt berechnet. Selbst wenn man 1000 Terme des Produkts berücksichtigt, kommt man nur auf π ≈ 3,1408. Man muss wirklich viele Terme berechnen, um ein halbwegs genaues Ergebnis zu bekommen. Aber der Mathematik ist es ja egal, wie lange etwas dauert. Wenn man den Grenzwert für unendliche viele Terme berechnet, erhält man tatsächlich exakt (die Hälfte von) π.
Das Wallis-Produkt ist aus mathematischer Sicht interessant und hat sich als praktisches Instrument für diverse Beweise erwiesen. Der Zusammenhang zur Arbeit von Friedmann und Hagen erschließt sich allerdings nicht sofort.
Ungenauigkeiten enthüllen eine ungeahnte Verbindung
Es geht dabei um die Berechnung der Energiezustände eines Wasserstoffatoms. Das ist eigentlich keine allzu schwere Aufgabe; die entsprechende Formel hat schon Niels Bohr vor mehr als einem halben Jahrhundert entwickelt. Man kann allerdings auch einen anderen Ansatz wählen, nämlich die so genannte Variationsmethode. Kurz gesagt wählt man dabei eine einfache Näherung für die gesuchte Lösung aus und vergleicht anschließend das Ergebnis mit der exakten Lösung (die dank der Formel von Bohr ja bekannt ist). Dabei haben Friedmann und Hagen festgestellt, dass der berechnete Unterschied umso kleiner wird, je größer der Drehimpuls ist.
Betrachtet man nur den Grundzustand des Atoms, beträgt der Fehler zirka 15 Prozent, im ersten angeregten Zustand sind es knapp zehn Prozent, und je größer die Anregung, desto kleiner die Abweichung. Diese Fehlerraten erinnern stark an den Fehler, den man mit dem Wallis-Produkt macht, wenn man unterschiedlich viele Terme zur Annäherung an π nutzt. Als Friedmann und Hagen eine mathematische Formel aufstellten, um die Abweichung zwischen der Näherung und der exakten Lösung in Abhängigkeit der Anregung zu beschreiben, haben sie tatsächlich die Formel für das Wallis-Produkt gefunden.
Das ist durchaus überraschend. Die Kreiszahl π findet sich zwar überall in der Naturwissenschaft. Aber niemand hatte damit gerechnet, dass eine so spezielle Näherungsmethode für π bei der Beschreibung der Energiezustände eines Wasserstoffatoms auftaucht. Neue Erkenntnisse über π oder Wasserstoff lassen sich daraus jedoch nicht ableiten. Allerdings schreiben Friedmann und Hagen in ihrer Arbeit: »Die Existenz einer solchen Herleitung weist darauf hin, dass es beeindruckende Verbindungen zwischen der etablierten Physik und der reinen Mathematik gibt, die bemerkenswert schön sind und trotzdem noch entdeckt werden müssen.« Und das reicht als Erkenntnis vollkommen aus.
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