Schlichting!: Sonnenphysik mit dem Plastiksieb
Im Schatten von gitterartigen Strukturen, etwa einem großen Holzgeflecht im Freien, geschieht etwas Eigenartiges: Mit zunehmender Entfernung zwischen Gitter und Projektionsfläche verändert sich allmählich die Form der abgedunkelten Flächen. Die quadratischen Muster werden immer mehr zu Kreisen oder Ellipsen (siehe »Schatten eines Holzgitters«).
Wir haben es hier mit Sonnentalern zu tun, das heißt Lochkamera-Abbildungen der Sonne. Sie sind bei kleinen Öffnungen zu beobachten – oder eben bei großen Abständen der jeweiligen Projektionswand. Man sieht sie ebenfalls oft unter dem Blätterdach von Bäumen auf dem Boden. Die besondere Situation besteht im Fall des Gitters allerdings in dessen Gleichmäßigkeit und Enge. Durch etliche Überlagerungen entwickeln sich die Abbilder der Sonne immer mehr zu subtilen Hybriden aus Licht und Schatten. Dabei geht ab einem bestimmten Abstand das System aus Sonnentalern, wo Lichtfleck neben Lichtfleck liegt, in ein System von »Schattentalern« mit vielen dunklen Punkten über.
Eine solche Situation kann man mit einem leicht handhabbaren Spielzeugsieb nachstellen (siehe »Spielzeugsieb«). Indem man das Sonnenlicht senkrecht auf eine Projektionsfläche abbildet und den Abstand variiert, kann man in bestimmten Distanzen farbige Muster erzeugen. Das ist im vorliegenden Fall bei etwa 86 Zentimetern besonders auffällig. Neben grauen Elementen treten solche mit Blau- und Brauntönen auf (siehe »Farbige Muster«). Mein Kollege Wilfried Suhr hat das genauer untersucht und sieht darin einen direkten Hinweis auf die Randverdunkelung der Sonne, ein Phänomen aus der Astronomie.
Um diesen Zusammenhang aufzuklären, blicken wir gedanklich von der Projektionsfläche aus durch das Gitter auf die Sonne (auf keinen Fall wirklich direkt in die Sonne schauen!). An jedem Punkt dokumentieren wir, zu welchem Anteil die Sonne durch die Stege des Gitters verdeckt wird. Die Helligkeit ist dann am größten, wenn die gesamte Sonnenscheibe durch ein Loch im Gitter zu sehen ist. Sie wird umso geringer, je mehr die Sonne von Stegelementen verdeckt wird.
Für genauere Berechnungen kann man den Lichtkegel betrachten, dessen Raumwinkel sich aus dem Abstand der Sonne s und ihrem Durchmesser d ergibt. Die komplette Sonnenscheibe ist sichtbar, wenn der Kegel in Höhe des Gitters durch ein Gitterloch passt.
Gesiebte Sonnenstrahlen
Die Verhältnisse lassen sich veranschaulichen, wenn man sich das Gitter vereinfacht vorstellt – als eine (unterbrochene) Linie im Abstand h über der Abbildungsebene. Von dort aus gesehen erscheint die Sonne von zwei Punkten A und B jeweils unter dem Winkel 𝜑 (siehe »Geometrie der Schatten«). Von A aus wird sie von zwei Stegen verdeckt, von B aus nur von einem. Die Helligkeit ist dann bei B am größten und bei A am kleinsten. Von allen anderen Stellen aus betrachtet ergeben sich Zwischenwerte.
Die Entfernung h wurde so gewählt, dass Schattentaler entstehen, also die Licht- und Schattenfiguren ihre Rolle vertauschen. Die Bedingung für diese Inversion lässt sich mit Hilfe des Strahlensatzes rechnerisch bestimmen. Demnach ist das Verhältnis von Sonnenentfernung s und Sonnendurchmesser d (das entspricht hier dem Winkel φ) gleich dem Verhältnis der Entfernung h zur Länge des Lochgitterabschnitts, der sich aus der Lochweite w und der doppelten Stegbreite c zusammensetzt: h/(w + 2c) = s/d = 150⋅106 km/1,4⋅106 km ≈ 108.
Daraus ergibt sich für das Spielzeugsieb mit vier Millimeter breiten Löchern und zwei Millimeter breiten Stegen eine Inversionshöhe h =(w + 2c)⋅108 = 86,4 Zentimeter. Das Ergebnis stimmt recht gut mit dem Wert überein, der sich bei dem realen dreidimensionalen Gitter feststellen lässt. Man kann das Bild gedanklich auch zeichnen, indem man sich das vereinfachte Modell seitlich verschoben denkt (siehe »Vergitterte Sonne«).
Die Farben, die in der Inversionshöhe auftreten, lassen sich ganz bestimmten Kombinationen von Stegen und Löchern des Siebs zuordnen. Dabei entsprechen die bräunlichen Elemente einer kreuzförmigen Abdeckung der Sonne. Hier wird überwiegend Licht durchgelassen, das aus dem Randbereich der Sonne stammt. Die bläulichen Bereiche entsprechen wiederum Löchern, bei denen der Rand durch ein Quadrat aus Stegen abgeschirmt ist. Das Licht kommt also vor allem aus dem zentralen Abschnitt der Sonne. Die hellgrauen Stellen dazwischen ergeben sich aus einer Mischung von Strahlung aus allen Sonnenregionen (siehe »Einzelner Sonnentaler«).
»Die Sonnenflecke soll ich bemerkt und die Sonne selbst soll ich übersehen haben!«Friedrich Hebbel, deutscher Dramatiker
Daraus lässt sich schließen: Die Sonne ist keine farblich einheitliche Lichtquelle! Vielmehr unterscheidet sich die spektrale Zusammensetzung der Strahlung aus ihrem Zentrum von derjenigen aus den Randbereichen. Wenn man sich die Siebabbildungen im Abstand der Inversion genau anschaut, kann man direkt die unterschiedliche Farbtemperatur ablesen. Das Blau muss aus heißeren Bereichen stammen.
Obwohl die Randverdunkelung der Sonne durch die Betrachtung von Sonnentalern schon früh aufgefallen sein muss und die erste Fotografie (Daguerreotypie) des Phänomens 1845 von den französischen Physikern Léon Foucault und Hippolyte Fizeau hergestellt wurde, erfolgte eine physikalische Begründung erst wesentlich später. 1906 erklärte der deutsche Astrophysiker Karl Schwarzschild, dass die kugelförmige Sonne ebenso wie andere Fixsterne aus Gas bestehen, dessen Temperatur zur Oberfläche hin abnimmt. Da man zum Rand hin auf höhere und damit weniger heiße Bereiche blickt, ist dort die Helligkeit geringer als in der Mitte, bei der man Licht aus tieferen und damit heißeren Regionen empfängt. Eine genauere Untersuchung der Randverdunklung liefert Informationen über den Druck- und Temperaturverlauf im oberen Bereich der Sternatmosphäre.
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