Warkus' Welt: Vorsicht vor der Intuitionspumpe
Wenn ich in die Suchfunktion meines Computers das Wort »Spieltheorie« eintippe, ist der erste Suchvorschlag, der mir dieser Tage automatisch angezeigt wird, »Spieltheorie Ukraine«. Suche ich online nach den Stichwörtern »Ukraine Philosophie«, stoße ich sofort auf Diskussionen zu Richard David Prechts Behauptung, es gäbe eine Art Pflicht der Ukraine, zu kapitulieren. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht unbedingt ersichtlich scheinen mag: Philosophisch betrachtet ist beides eng miteinander verknüpft.
Die Spieltheorie ist eine mathematische Theorie, die wie viele mathematische Disziplinen Bezüge zur zeitgenössischen Philosophie aufweist. Ganz grob gesagt geht es in ihr um die Analyse von Situationen, in denen Akteure durch das Treffen von Entscheidungen (also: durch das Machen von Spielzügen) interagieren. Hierzu kann man zum Beispiel Spielbäume zeichnen, die die mögliche Abfolge bestimmter Entscheidungen und ihre Folgen (Gewinne oder Verluste) für die interagierenden Akteure (die Spieler) darstellen.
Bernd Lucke, Wirtschaftsprofessor in Hamburg, der der breiten Öffentlichkeit vor allem als Mitgründer der AfD bekannt sein dürfte, hat gut zwei Wochen vor dem russischen Angriff auf die Ukraine in einem Beitrag für die Zeitschrift »Cicero« mit spieltheoretischen Mitteln nachgewiesen, dass es irrelevant sei, ob der Westen Russland für den Fall eines Angriffs mit Wirtschaftssanktionen drohte. Das »Spiel« sah dabei so aus: »Der Westen kann drohen oder nicht drohen; dann kann Russland angreifen oder nicht angreifen; im Fall eines Angriffs werden Sanktionen verhängt oder nicht; im Falle eines Nichtangriffs werden keine Sanktionen verhängt.« Zudem wurden Punktewertungen festgelegt: »Wenn Russland am Ende die Ukraine besetzt hat, kriegt Russland 100 und der Westen –100. Wenn am Ende Wirtschaftssanktionen verhängt werden, kriegt Russland –200 und der Westen –50. Werden keine Sanktionen verhängt oder marschiert Russland nicht ein, sind die Auszahlungen null«, schlüsselte Lucke auf. So kommt er zu dem Schluss, dass es ganz gleich ist, ob der Westen nun droht oder nicht, und es die beste Handlungsweise sei, unabhängig vom russischen Handeln keine Sanktionen zu verhängen.
Interessanterweise gibt es eine vergleichbare spieltheoretische Überlegung auch zu einem ganz anderen Szenario, das dieser Tage ebenfalls oft diskutiert wird. Basierend darauf kann man im Konfliktfall zwischen zwei starken Atommächten unterstellen, dass es das vernünftigste Verhalten für ein Land wäre, das massiv nuklear angegriffen wird, keinen Gegenschlag auszulösen. Auf diese Weise bliebe am Ende von der Erde wenigstens noch etwas bewohnbare Fläche zurück. Prechts Unterstellung, es gäbe eine Klugheitspflicht, in einer ausweglosen Situation zu kapitulieren, rangiert gewissermaßen auf einer mittleren Etage zwischen Lucke und den Atomszenarien aus dem strategischen Horrorkabinett des Kalten Kriegs.
Welche Vorannahmen stecken dahinter?
Letztlich haben alle drei Argumente eines gemeinsam: Das Interessante ist eigentlich nicht der Gedankengang selbst, sondern das, was oben in die Denkmaschine hineingesteckt wird, nämlich die Vorannahmen zu den Konsequenzen bestimmter Ereignisse. So ging Luckes Spielbaum beispielsweise davon aus, dass ein Einmarsch in der Ukraine für Russland (von den Sanktionen abgesehen) keinen wirtschaftlichen Schaden, sondern nur einen großen Nutzen bedeuten würde. Dass wirklich ein Krieg ausbrechen könnte, durch den Russland, konservativ geschätzt, jede Woche militärisches Großgerät im Wert von mehr als einer Milliarde Euro verliert und der, selbst unabhängig von Sanktionen, erheblich auf die Volkswirtschaft drückt, war in seinen Annahmen schlicht nicht vorgesehen. Menschliches Leid taucht darin gar nicht auf. Prechts Überlegung wiederum berücksichtigt zwar das Leid der Menschen im jetzt tatsächlich stattfindenden Krieg, unterstellt aber die ukrainische Niederlage als gesetzt und nimmt das mögliche zukünftige Leid einer unterdrückten ukrainischen Bevölkerung unter der Verwaltung eines verbrecherischen Regimes als vernachlässigbar an.
Eine der wichtigsten Erkenntnisse im Philosophiestudium – übrigens eine, die man besonders gut beim Reden über Gott lernen kann – ist, wie viele selbst sehr komplexe Argumente es gibt, die wenig mehr tun, als einen Beglaubigungsstempel auf die eigenen Vorannahmen zu drücken. Vom amerikanischen Philosophen Daniel Dennett (* 1942) stammt in dem Zusammenhang der Ausdruck Intuitionspumpe. Damit sind Gedankenexperimente gemeint, die darauf ausgelegt sind, eine bestimmte Hypothese als intuitiv richtig erscheinen zu lassen. Lucke und Precht pumpen, so scheint mir, noch nicht einmal wirklich Intuition in ihre eigenen Hypothesen hinein, sondern eher eine Art Zuckerguss darüber. Wie um zu vermeiden, dass die eigentlich relevante Frage gestellt wird: nämlich die danach, wo diese Vorannahmen überhaupt herrühren.
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