Schlichting!: Eissäulen aus dem Boden
Nachdem an einem Wintertag die Lufttemperatur leicht unter den Gefrierpunkt gesunken war, machte ich mich auf, um nach Haareis zu suchen. Eigentlich sind solche Bedingungen dafür günstig: frostige Luft über einem Erdreich, in dem noch etwas mehr als null Grad Celsius herrschen. Dennoch blieb meine Suche erfolglos. Offenbar waren weitere Bedingungen für das Auftreten dieser wohl filigransten aller Eisvarianten weniger gut erfüllt als in den Vorjahren.
Meine Enttäuschung verflog jedoch schnell, als mir auf dem Rückweg über den kaum bewachsenen Hang eines Berges einige merkwürdig erscheinende Eiszapfen entgegenglänzten. Sie sahen aus, als wären sie mit einem Spritzbeutel, den man zur Verzierung von Torten mit Sahne benutzt, aus dem Boden herausgepresst worden. Jedenfalls entsprach der Querschnitt der Eiszapfen in vielen Fällen genau der Form der Löcher, aus denen sie herausquollen. Teilweise trugen die Gebilde das fehlende Stück des Bodens wie einen Hut auf ihrer Spitze. In einigen Fällen hoben benachbarte Stränge gemeinsam eine kleine Erdscholle aus dem Boden heraus.
Der Boden, auf dem ich das Kammeis entdeckte, setzte sich aus teils sandigen, teils lehmigen Bestandteilen zusammen. Bis auf eine dünne gefrorene Oberflächenkruste war der Untergrund dank seiner Feuchtigkeit relativ weich und gab an bestimmten Stellen unter meinem Körpergewicht sogar nach.
Schaut man sich die Zapfen genauer an, so zeigt sich, dass sie aus einem Bündel zusammengefrorener Eisnadeln bestehen. Daher rührt auch ihr englischer Name »needle ice«. Die deutsche Bezeichnung Kammeis bezieht sich hingegen auf die gleichartig ausgerichtete Struktur eines ganzen Systems von Zapfen. Die von mir entdeckten Exemplare hatten eine maximale Länge von etwa 15 Zentimetern. Unter besonders günstigen Bedingungen können sie sogar doppelt so lang werden.
Das Kammeis entsteht im Wesentlichen dadurch, dass aus den Poren des feuchtsandigen und porösen Erdreichs Wasser an die Oberfläche dringt. Dort verdunstet es normalerweise. Der Flüssigkeitsstrom wird durch Kapillarkräfte angetrieben, hinter denen ein fundamentaler physikalischer Zusammenhang steht: Zur Ausbildung einer Grenzfläche zwischen dem hydrophilen Sand und dem Wasser ist weniger Grenzflächenenergie nötig als zwischen Sand und Luft. Und da unter den jeweiligen Bedingungen immer so viel Energie wie möglich an die Umgebung abgegeben wird (zweiter Hauptsatz der Thermodynamik), wird stets Luft durch Wasser ersetzt und damit aus den Poren verdrängt.
Wenn die Lufttemperatur unter null Grad Celsius sinkt, gefriert das Wasser an den Austrittsöffnungen. Daraufhin wachsen – getrieben durch nachströmendes Wasser – Eisnadeln immer weiter aus dem Boden heraus. Der Vorgang wird dadurch unterstützt, dass sich gefrierendes Wasser ausdehnt. Die nachkommende Flüssigkeit erstarrt in dem Maß, wie sie in die kalte Zone gelangt. Daher bleibt die Verbindung zwischen den mit Wasser gefüllten Kapillaren und den Eisnadeln stets erhalten.
Energetisch günstiges Verschmelzen
Im Übergangsbereich zwischen Boden und kalter Luft frieren benachbarte Nadeln in der Regel zu Bündeln zusammen und bilden ein mehr oder weniger dickes Säulenwerk – das Kammeis. Hierfür ist erneut die Grenzflächenenergie entscheidend. Weil sie zwischen Wasser und Eis wesentlich geringer ist als zwischen Luft und Eis, wird auch dieser Vorgang maßgeblich durch die Abgabe von Energie an die Umgebung angetrieben. Solche Zusammenschlüsse kommen ebenfalls bei frischen Eiswürfeln vor, die sich berühren.
Kammeis ist nicht häufig zu sehen. Offenbar müssen die äußeren Bedingungen wie die Feuchtigkeit des Erdreichs, die Lufttemperatur oder die Luftfeuchte zusammenpassen. Und selbst dann, wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, sind die Kammeissäulen meist schief und krumm und formen manchmal skurrile Gebilde. Dafür sind die Inhomogenität und Instabilität der gefrorenen Bodenschicht verantwortlich. Diese muss einerseits fest genug sein, um die Zapfen zu verankern, andererseits hinreichend formbar, um Wachstumsbewegungen durch die Frostschicht hindurch zu ermöglichen.
Selbst unmittelbar benachbarte Eisnadeln finden so leicht veränderte Gegebenheiten vor und wachsen entsprechend unterschiedlich schnell oder in etwas verschiedene Richtungen. Wegen der festen Verbindungen im Säulengebilde kommt es daher zu entsprechenden Krümmungen. Die Neigung geht immer zur Seite der langsamer wachsenden Nadeln. Bisweilen gibt es dadurch nur wenig Ähnlichkeit mit den geraden Zinken des namensgebenden Kamms.
An dem Tag, an dem ich das Kammeis entdeckte, begann mit zunehmender Lufttemperatur das Eis zu schmelzen. Dadurch schwand die Verankerung der Zapfen, woraufhin diese reihenweise umkippten und schließlich ein eisiges Trümmerfeld hinterließen. Das zeigte den subtilen Zusammenhang zwischen Festigkeit und Verformbarkeit der gefrorenen Bodenschicht. Das Verhältnis ist besonders an Abhängen für die begrenzte Länge der Zapfen verantwortlich. Schwerkraftbedingt fallen sie ab einer kritischen Höhe einfach um.
»Gestaltung, Umgestaltung, / Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung«Johann Wolfgang von Goethe
Da die Kammeissäulen oft Teile des Erdreichs anheben, wird dabei jeweils ein bisschen Boden hangabwärts transportiert. Auf Dauer kann das Phänomen so zur Nivellierung der Landschaft beitragen.
Die Natur hat zwei weitere Formen rein äußerlich ähnlicher Eissäulen hervorgebracht, die unter jeweils spezifischen Bedingungen nach oben streben. Dazu gehören das eingangs erwähnte Haareis und die Eiszapfen, die zuweilen auf zufrierenden, wassergefüllten Behältern entstehen. Abgesehen davon, dass sie alle aus gefrorenem Wasser bestehen, liegen ihnen allerdings völlig verschiedene Mechanismen zu Grunde.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.