Schlichting!: Lichtstern zwischen eingeschnürten Schatten
Als ich einmal auf der Terrasse saß und den Sonnenschein genoss, zog das halb gefüllte Wasserglas meine ganze Aufmerksamkeit auf sich – oder besser der darin lehnende Trinkhalm. Denn ich bemerkte, dass dessen Schatten auf dem Boden des Glases in zwei Teile zerfiel. Beide verjüngten sich an der Trennstelle und waren dort von hellen Brennlinien begrenzt.
Das faszinierende optische Rätsel ließ sich schnell zu seinem Ursprung zurückverfolgen: Die Schattentrennung und die damit verbundene Aufhellung kamen von der Stelle, an welcher der Trinkhalm die Wasseroberfläche durchstieß. Dort wurde nämlich das Wasser an dem leicht benetzbaren Plastikhalm ein wenig hochgezogen. Daraufhin war er von einem so genannten Meniskus mit einem konkaven Profil umgeben.
Solch ein rundum laufender Wasserwall bricht die auftreffenden Sonnenstrahlen unter einem anderen Winkel in die Flüssigkeit hinein als die ebene Wasseroberfläche. Das Licht wird mit zunehmender Abweichung des Einfallswinkels immer stärker abgelenkt, und zwar in den Bereich, der ohne Meniskus im Schatten des Halms liegen würde. Das schnürt den sichtbaren Schatten ein.
Das Phänomen beim Übergang von der Luft ins Wasser ist in der Optik schon lange bekannt. Es wird seit einer entsprechenden Publikation von 1967 als Shadow-Sausage-Effekt bezeichnet, weil sich die beiden scheinbaren Schattenenden des Halms ähnlich verjüngen wie der Knotenbereich einer Wurstkette. Zudem kommt es zu charakteristischen Brennlinien, so genannten Kaustiken. Hier kreuzen sich verschiedene Strahlenwege.
Zum Karo gefächerte Strahlen
Eingehendere Experimente habe ich anschließend gemeinsam mit meinem Kollegen Wilfried Suhr durchgeführt – der Deutlichkeit wegen mit einem Holzstab, der sich gut benetzen lässt. Wir tauchten ihn zunächst senkrecht ins Wasser und beleuchteten ihn mit einer nahezu punktförmigen Lichtquelle (das sollte die weitgehend parallelen Strahlen der Sonne nachahmen) unter einem Winkel von zirka 50 Grad. Eine helle LED-Taschenlampe mit abgeschraubter Linse tat dabei gute Dienste.
Als Erstes überzeugten wir uns davon, dass sich das konkav aufwölbende Wasser tatsächlich auf die Lichtwege auswirkt. Dazu mussten wir den Meniskus zum Verschwinden bringen. Das ist möglich, indem man den Stab genauso schnell aus dem Wasser zieht, wie dieses an ihm aufsteigt. Als die passende Geschwindigkeit gefunden war, hielten die beiden ehemaligen Schattenenden während der Bewegung passgenau zusammen. Eine andere Möglichkeit besteht darin, einen Stab ins Wasser zu stellen, der nicht benetzt wird. Dazu eignen sich manche Kunststoffarten. Auch dann bleibt der Shadow-Sausage-Effekt aus.
Um einen genaueren Eindruck davon zu gewinnen, wie das Licht abgelenkt wird und wo die vom üblichen Weg abgebrachten Strahlen landen, haben wir einen weiteren kleinen Versuch durchgeführt. Wieder beleuchtete unsere Lichtquelle den Meniskus am senkrecht eingetauchten Holzstab unter einem 50-Grad-Winkel. Gleichzeitig tasteten wir den Bereich mit dem Strahl eines Laserpointers ab, der genauso ausgerichtet war wie das weiße Licht. Wir wählten dafür vier Punkte aus, die für die Ablenkung charakteristisch sind und den dort gebrochenen Strahlen des weißen Lichts entsprechen.
Zwei der Punkte lagen jeweils an den gegenüberliegenden Stellen am unteren Rand von einer Seite des Meniskus. Der Anstieg der Wasseroberfläche ist dort noch relativ klein, das heißt, die durch die Brechung geänderte Richtung des Lichtstrahls unterscheidet sich nur wenig von der, in die er auf einer ebenen Wasseroberfläche abgelenkt würde. Dementsprechend landen die Strahlen an der Stelle des Behälterbodens, an der die Einschnürung des Stabschattens gerade beginnt.
Für die zwei mittleren Punkte wählten wir Stellen, an denen die Steigung des Meniskus bereits so groß ist, dass der Lichtstrahl etwa in der Mitte der Einschnürung des Schattens auftrifft. Wie man sich leicht vorstellen kann, landen alle weiteren Strahlen innerhalb der beiden Extreme an einem Ort dazwischen auf der gekrümmten Brennlinie. Die große Leuchtdichte in den beiden hellen Kreuzungspunkten kann man sich dadurch entstanden denken, dass sich dort sehr viele solcher Linien fächerartig überlagern. Aus Symmetriegründen passiert auf der gegenüberliegenden Seite des Stabs Entsprechendes. So kommt es insgesamt zu der feinen Struktur der Kaustik, die auch als Astroide bezeichnet wird. Durch die Änderung des Einfallswinkels oder der Neigung des Stabs werden natürlich die Linien und Kurven von Schatten und Licht entsprechend deformiert. Die charakteristische, karoähnliche Form bleibt dabei jedoch erhalten.
»Was ist launischer als die Verteilung von Lichtern und Schatten«Paul Valéry
Der Effekt ist weniger exotisch und häufiger zu beobachten, als man denkt. Wer bei Sonnenschein auf dem Boden eines flachen Gewässers die Schattenprojektion eines herausragenden Astes oder der umherdriftenden Blätter betrachtet, bekommt deformierte und von Kaustiken durchwirkte Gestalten zu Gesicht, die ästhetisch oft sehr ansprechend sind. Unter günstigen Bedingungen rufen sogar die von Wasserläufern verursachten Dellen entsprechende Phänomene hervor.
Man findet den Effekt außerdem an unvermuteten Stellen. So kann ein auf flachem Wasser schwimmender Ball im Licht der Sonne gleich drei Schatten werfen. Dabei umschließt ein bloß schemenhaft zu erkennender, diffuser großer Schatten zwei kleinere, prägnantere. Sie wirken, als kämen sie sich derart in die Quere, dass sie sich gegenseitig ein wenig zusammendrückten.
Vergleicht man dieses Schattenpaar mit dem eingetauchten Trinkhalm, so erkennt man den Ursprung des Kuriosums: Der Ball entspricht einem kugelförmigen Stab mit einem Teil über und einem unter der Wasseroberfläche. Die Abschnürung des geometrischen Schattens des Balls führt wieder zu annähernd kreisrunden Schatten – und so entsteht ein merkwürdiges Dreischattengebilde.
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