Schlichting!: Ein Millimeter Wasser trägt eine Tonne Granit
Zuweilen dreht sich im öffentlichen Raum, etwa in Parks oder auf Plätzen, eine riesige Steinkugel langsam und lautlos auf einer besonderen Art von Brunnen. Die Bewegung erkennt man oft überhaupt erst daran, dass sich die Oberflächenstruktur verändert. Als ich eine solche Installation zum ersten Mal in Aktion erlebte, war ich nicht nur von der Schönheit der ruhig kreisenden und dank ihrer Benetzung im Sonnenlicht glänzenden Kugel fasziniert. Vielleicht sogar noch mehr war ich darüber erstaunt, dass ein solcher Vorgang überhaupt möglich ist.
Denn immerhin hat man es dabei oft mit tonnenschweren Granitkugeln zu tun, die nahezu reibungsfrei auf einem hauchdünnen Wasserfilm gleiten. Auf den ersten Blick passen diese unterschiedlichen Dimensionen nicht zusammen. Manche Fragen drängen sich geradezu auf – insbesondere, warum die Kugel nicht einfach die Flüssigkeit zu den Seiten ihres sphärischen Betts wegdrückt und auf jener so genannten Kalotte aufsetzt.
Für eine Antwort muss man sich die physikalischen Verhältnisse etwas genauer anschauen. Eine Granitkugel hat eine Dichte von etwa 2700 Kilogramm pro Kubikmeter und ist damit 2,7-mal so schwer wie ein gleich großes Wasservolumen. Um den Stein zu tragen, muss deswegen vom Wasser ein entsprechend großer Gegendruck aufgebracht werden (wenn im Folgenden von Druck die Rede ist, handelt es sich um einen Überdruck bezüglich des Atmosphärendrucks).
Konkret beträgt die Masse einer Kugel mit einem Durchmesser von einem Meter 1414 Kilogramm. Eingebettet in eine passgenaue Kalotte mit einer Höhe von 25 Zentimeter und damit einer Fläche von 0,78 Quadratmeter übt sie einen Druck von 177 Hektopascal aus. Dieser Wert ist schon die erste Überraschung. Denn verglichen mit dem äußeren Luftdruck von 1013 Hektopascal ist er erstaunlich gering. Man könnte ihn durch Pusten mit dem Mund hervorbringen.
Dennoch bleibt die Frage, wie dieser Druck überhaupt innerhalb des Flüssigkeitfilms aufrechterhalten werden kann. Schließlich gibt es zu den Seiten keine Begrenzung wie bei einem Autoreifen oder einem anderen geschlossenen Behältnis. Zwischen Kalotte und Kugel kann das Wasser einfach herausgepresst werden.
Das Wasserbett unter der Kugel lässt sich mit einem durchflossenen Rohr vergleichen, das an einem Ende offen ist. Damit die Flüssigkeit dort herausströmt, muss ein Druck ausgeübt werden, der größer ist als der Atmosphärendruck. Denn wegen der Zähigkeit des Fluids gibt es reibungsbedingte Energieverluste. Zur Veranschaulichung dieser so genannten Viskosität hilft es, sich vorzustellen, das strömende Wasser bestehe aus einzelnen Schichten parallel zu den Wänden des Rohrs. Die Lagen werden während der Strömung gegeneinander verschoben. Dabei ist das Wasser ganz am Rand in Ruhe, während die Schichten zur Mitte hin zunehmend schneller werden. Man hat es deswegen mit einem parabolischen Geschwindigkeitsprofil zu tun.
Ähnlich ist es bei der rotierenden Kugel. Der zwischen ihr und der Kalotte gebildete Spalt entspricht dem durchflossenen Rohr. Die Viskosität führt also dazu, dass der Druck zwischen dem Zufluss des Wassers unterhalb der Basis und ihrem oberen Rand abnimmt – bis zum äußeren Atmosphärendruck.
Doch wie schafft man es, dass der Druck gerade passt? Der Spalt darf nicht zu klein sein, um keine Berührungen zwischen den Oberflächen zu riskieren, aber auch nicht zu groß, damit die Kugel nicht aus der Basis herausgestoßen wird. Für eine solche Stabilisierung genügt es allerdings schon, einen ausreichenden Wasserzufluss einzustellen. Anschließend regelt sich die Höhe von selbst ein. Sollte nämlich die Kugel etwas absinken, steigt der Druck des fließenden Wassers, und zwar mit einer höheren Potenz als der Lageunterschied. Deswegen nimmt die Dicke des Wasserfilms sehr schnell wieder zu. Wenn umgekehrt die Kugel emporgehoben wird, fällt der Druck rapide. Entscheidend für diesen selbstorganisierten Vorgang ist ein nicht linearer Zusammenhang zwischen der Variation des Drucks und des Abstands im so genannten Gesetz von Hagen-Poiseuille, das die Strömungsverhältnisse beschreibt.
Präzision in Granit
Bei der hier betrachteten 1,4 Tonnen schweren Granitkugel und der Kalotte von 25 Zentimeter ergibt sich eine Höhe des strömenden Wassers von weniger als einem Millimeter. Dazwischen passt nicht einmal eine Postkarte. Das stellt übrigens bei einer Kugel im öffentlichen Raum sicher, dass Kinder ihre Finger nicht in den Spalt stecken können. Der winzige Zwischenraum bedeutet, dass die polierte Kugel und ihre Basis äußerst genau gearbeitet sein müssen. Angesichts solcher Präzision kann man also durchaus von Hightech-Produkten sprechen, trotz des gewöhnlichen Materials.
»Diese Leichtigkeit scheint mir besonders schwierig«Flann O'Brien
Durch die gute Schmierung ist es sehr leicht, die Kugel in Bewegung zu setzen und ihre Rotationsrichtung zu ändern – bereits kleine Unregelmäßigkeiten und äußere Einflüsse genügen. Gleichermaßen sorgt die geringe Reibung dafür, dass eine einmal aufgenommene Drehung lange anhält.
Das Gleiten der Kugel auf dem Wasserfilm lässt sich mit dem Phänomen des Aquaplanings vergleichen, das man bei Starkregen beim Autofahren erleben kann. Dabei sammelt sich ein Wasserkeil vor den Rädern des Fahrzeugs, wodurch dieses ein wenig angehoben wird. Sobald das Wasser genauso schnell nachrückt, wie es durch die Reifen weggedrückt wird, kann der Zustand stationär werden: Jetzt gleitet das Auto auf dem dünnen Wasserfilm, und ein Steuern ist nicht mehr möglich. Denn dazu wären ein direkter Kontakt zwischen Straße und Reifen und entsprechende Reibung erforderlich. Das Risiko für Aquaplaning nimmt mit der Geschwindigkeit zu.
Einen solchen Vorgang nennt man allgemein auch hydrodynamische Schmierung. Wie der Begriff bereits andeutet, wird er in der Technik gezielt eingesetzt: Er kann die Reibung zwischen einer rotierenden Welle und ihrem Lager bis auf den viskosen Widerstand herabsetzen und eine direkte Berührung zwischen den Metallteilen unterbinden. In dem Sinn sind die rotierenden Granitsphären so etwas wie überdimensionale Kugeln eines Kugellagers.
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