Schlichting!: So wird eine Schnur zum Wasserrohr
Bereits Leonardo da Vinci hat erkannt, dass ein Docht nach ähnlichen Prinzipien funktioniert wie ein scheinbar ganz anderes Gerät, ein Siphon. Mit diesem kann man Flüssigkeiten aus einem höher gelegenen Behälter über eine Barriere hinweg in einen tiefer gelegenen umfüllen. Solch eine Vorrichtung hebt zum Beispiel Wasser in einem Rohr oder Schlauch zunächst ein Stück entgegen der Schwerkraft über den Rand des Gefäßes an, bevor es nach unten abgelassen wird. Aus Leonardos Aufzeichnungen geht hervor, dass er diesen ersten Teil des Flüssigkeitstransports im Siphon mit der Hebewirkung eines Dochts verglich.
Dabei könnten auf den ersten Blick die Unterschiede zwischen beiden Systemen nicht größer sein: Die Saugwirkung eines Siphons hängt entscheidend davon ab, dass die Röhren absolut dicht sind und einem gewissen Unterdruck widerstehen. Beim Docht hingegen ist alles offen, die Flüssigkeit liegt voll zu Tage. Dennoch, der Universalgelehrte lag richtig – beide Systeme funktionieren tatsächlich physikalisch nach den gleichen Prinzipien.
Schon ein klassischer Siphon beeindruckt dadurch, dass hier eine Flüssigkeit scheinbar der Erdanziehung trotzt, nach oben fließt und von selbst über ihren eigentlichen Spiegel hinaus aufsteigt. Handelt es sich hier nicht um einen Verstoß gegen das Prinzip von der Erhaltung der Energie, um ein Perpetuum mobile? Nein, denn während sich das Gefäß entleert, nimmt der Schwerpunkt der Flüssigkeit ab. Dabei wird Höhenenergie an die Umgebung abgegeben. Das ist der eigentliche Antrieb der bergauf strebenden Flüssigkeit.
Wie dieser Unterdruck entsteht, lässt sich genauer nachvollziehen, indem man sich das Verhalten eines winzigen Flüssigkeitselements anschaut (siehe »Prinzip des Siphons«). Auf dem Weg vom erhöhten Startpunkt A zum niedrigeren Endpunkt B senkt sich das Flüssigkeitsniveau im oberen Behälter ein wenig, während es sich im unteren etwas hebt. Dabei geht die Höhenenergie in Bewegungsenergie über (abgesehen von Verlusten durch Reibung im Rohr) und verleiht der Wassersäule im Schlauch eine entsprechende Geschwindigkeit.
Das Flüssigkeitselement besitzt nun Höhenenergie, Bewegungsenergie und Druckenergie. Deren Summe ist bis auf Reibungsverluste auf dem Weg durch den Schlauch konstant. Da die Flüssigkeit gleichmäßig fließt, ändert sich die Bewegungsenergie abgesehen von kleinen Verlusten durch die Reibung nicht. Entsprechend muss die Summe von Druckenergie und Höhenenergie auch konstant bleiben.
»Schwerkraft; das, was uns herabzieht, ist der Sporn, der uns erhebt«Jeanette Winterson, britische Schriftstellerin
Bezieht man die Nulllinie der Höhenenergie auf das Niveau an Punkt B, dann besitzt das Flüssigkeitselement nur noch Bewegungsenergie, denn der Druck ist dort gleich dem der äußeren Luft. An Punkt A kommt nun noch die Höhenenergie hinzu, die der Höhendifferenz entspricht. Daher muss die Druckenergie geringer sein als an Punkt B und damit der Druck dort – und an allen Punkten im Schlauch oberhalb von B – entsprechend kleiner sein als der Luftdruck. Dieser Unterdruck erklärt den Antrieb des Flüssigkeitselements und seine Bewegung über den höchsten Punkt des Siphons hinweg. Beim anschließenden Absinken geht die frei werdende Höhenenergie zunehmend in Druckenergie über, bis der Druck in Punkt B wieder dem äußeren Luftdruck entspricht.
Widerstreitende Kräfte im stabilisierenden Gleichgewicht
Für den Transport ist also Unterdruck nötig. Dafür wiederum braucht der geschlossene Siphon feste Wände, die der Druckdifferenz gegenüber der Umgebungsluft standhalten. Ausgerechnet solche Wände fehlen beim Docht. Wie also kann das Prinzip hier trotzdem funktionieren? Welche Kräfte erhalten den Unterdruck aufrecht?
Die im Docht aufsteigende Flüssigkeit steht in unmittelbarem Kontakt mit der Luft. Deswegen kommen nur Grenzflächenkräfte in Frage. Diese äußern sich darin, dass das Material von der Flüssigkeit gut benetzt wird. Das heißt, die spezifische Grenzflächenenergie (Grenzflächenspannung) muss beim Kontakt der Fasern mit der Flüssigkeit kleiner sein als beim Kontakt mit der Luft. Da die Natur bestrebt ist, unter den gegebenen Bedingungen so viel Energie wie möglich an die Umgebung abzugeben, überzieht sich der Docht zwangsläufig mit einer durchgehenden Hülle aus Flüssigkeit. Dieser Vorgang wird auch als Kapillareffekt bezeichnet.
Dabei spielt die Form dieser Hülle eine wesentliche Rolle. Das kann man sich an einem einfacheren Beispiel veranschaulichen, bei dem zwei gut benetzbare Glasplatten keilförmig zusammenstoßen. Zwischen den Platten steigt wegen des Kapillareffekts das Wasser auf, wobei sich die Flüssigkeit bezüglich der Luft umso stärker konkav krümmt, je höher sie steigt (siehe »Wasser im Glaskeil«). Denn mit zunehmender Höhe sinkt der hydrostatische Druck, und damit nimmt der Unterschied zum äußeren Luftdruck zu. Die Krümmung ist Ausdruck des Gegendrucks, der durch die Vergrößerung der Grenzfläche entsteht. Man spricht daher vom Krümmungsdruck.
Bei einem vollgesogenen Docht sind die Verhältnisse vergleichbar. Das erkennt man zum Beispiel bei einem Wollfaden, wenn man dessen unteres Ende in gefärbtes Wasser hängen lässt (siehe »Nasser Faden«). Die Wollfasern sind gut benetzbar, so dass sich die Zwischenräume mit Flüssigkeit füllen und sich eine durchgehende Wasserhaut bildet. Daran sieht man, wie der hydrostatische Druck im Inneren nach oben hin abnimmt und die konkave Krümmung und damit der Krümmungsdruck der Einbuchtungen zunimmt, so dass sich alles mit dem äußeren Luftdruck die Waage hält.
So also können Dochte Flüssigkeiten gegen die Schwerkraft über ein Hindernis hinweg transportieren: Statt fester Wände nutzen sie flüssige, die durch Kapillarkräfte im gut benetzbaren Fasermaterial stabilisiert werden. Allerdings ist bei solchen offenen Siphons die Durchflussrate wesentlich kleiner als bei einem klassischen Siphon mit ähnlichen Abmessungen. Grund dafür ist vor allem der vergleichsweise große Fließwiderstand infolge der engen Zwischenräume und verschlungenen Wege.
Dennoch ist die Methode für bestimmte Anwendungen eine geniale Alternative zu anderen Arten des Flüssigkeitstransports. Nicht nur in ihrer bekanntesten Form, der Kerze. Ich selbst nutze immer mal wieder im Urlaub und während anderer Abwesenheiten Dochtsysteme aus Wollfäden zum Bewässern von Blumen und weiteren Pflanzen. Der große Strömungswiderstand erweist sich dabei als Vorteil – wegen des kontinuierlichen Betriebs ist eine geringe Durchflussgeschwindigkeit geradezu erwünscht.
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