Schlichting!: Wie Blätter die winterliche Umgebung formen
Schnee und Eis bringt der Winter in unseren Breiten immer seltener. Aber meistens reicht es noch aus, um uns zumindest im kleinen Maßstab einige physikalisch interessante Kostproben dafür zu bieten, wie flüssiges Wasser in den festen Zustand übergeht und umgekehrt. Besonders aufschlussreich können Pflanzenblätter in verschiedenen Situationen sein.
Wenn es schneit, bevor ein vorangehender Frost die Böden genügend ausgekühlt hat, schmilzt der Schnee sofort. Es sei denn, er ist auf herabgefallenes Laub niedergegangen, das vom Herbst übrig geblieben ist. Es ist faszinierend, wie lange die Blätter noch an ihrer Schneehaube festhalten im Vergleich zur Umgebung, in der sich alles bereits wieder verflüssigt hat.
Die Ursache für dieses unterschiedliche Verhalten: Die Wärmekapazität eines Blatts ist schon wegen seiner geringen Masse wesentlich kleiner als die des Bodens. Der kalte Schnee sorgt also ziemlich schnell dafür, dass das Blatt dessen Temperatur annimmt, während sich die Temperatur des Erdreichs nur minimal ändert.
Trocknendes Laub rollt sich außerdem ein. Wenn es sich nach unten krümmt, hat es kaum noch Kontakt mit dem Boden. Es bleibt somit allein der Luft überlassen, Schmelzenergie herbeizuführen. Die Wärmeleitfähigkeit und -kapazität der Luft sind aber gering, weshalb sich der Effekt in Grenzen hält. Auch die Wärmestrahlung trägt kaum etwas zur Energieaufnahme bei. So kann ein Blatt seine Schneelast bis zum nächsten Tag und länger bei sich behalten, gerade wenn die Lufttemperatur in der Nacht wieder unter den Gefrierpunkt sinkt.
Eine ganz andere, dieses Mal im Wortsinn eindrucksvolle Rolle spielt Laub, das vom Wind auf eine Eisfläche geweht wurde: Während milder Temperaturen an den folgenden Tagen, an denen außerdem hin und wieder die Sonne scheint, versinken die Blätter langsam im Eis!
Eis ist für Sonnenlicht weitgehend transparent. Es reflektiert einen Teil davon, aber absorbiert verhältnismäßig wenig. Darum steigt seine Temperatur kaum an, und der Schmelzvorgang hält sich in Grenzen. Ganz anders beim relativ dunklen Blatt: Es nimmt einen großen Teil der auftreffenden Sonnenenergie auf und verwandelt ihn in thermische Energie. Die Wärme schmilzt das Eis an der Oberfläche und schafft so eine wässrige Verbindung zwischen Eis und Blatt. Über diesen Weg fließt durch Wärmeleitung weitere Sonnenenergie auf effektive Weise in das Eis.
Unscheinbares Heizelement
Das Blatt muss nicht unbedingt auf dem Eis liegen, um es lokal schmelzen zu lassen. Auch unmittelbar unter der durchscheinenden Eisschicht befindliche Blätter können eine entsprechende Wirkung entfalten. Liegt ein Blatt im Wasser an der Unterseite der gefrorenen Decke an, kann es ebenso Sonnenenergie absorbieren und als Wärme an das Eis abgeben. Die Verbindung kann so gut sein, dass sich regelrecht ein Loch ins Eis brennt.
In all diesen Fällen dominiert der Effekt der Wärmeleitung, und die Wärmestrahlung zwischen Blatt und Umgebung spielt nur eine untergeordnete Rolle. Es gibt aber auch zahlreiche winterliche Phänomene, bei denen die Strahlungskomponente ausschlaggebend ist. Manchmal sieht man etwa an Blatträndern feine Eiskristalle sprießen. Diese können sogar bei Temperaturen leicht oberhalb des Gefrierpunkts entstehen und gedeihen in der Nacht – vor allem an Stellen, die dem wolkenlosen, klaren Himmel ausgesetzt sind.
»Die Wahrheit liegt meist am Rande, nicht in der Mitte«Henry Miller, US-Schriftsteller
Denn angesichts des kalten Weltalls strahlen Objekte pro Zeiteinheit wesentlich mehr Energie ab, als sie aus ihrer unmittelbaren Umgebung erhalten. Dabei kann die Temperatur lokal unter den Gefrierpunkt sinken. Wenn dann auch noch die maximale Luftfeuchte kleiner wird als die absolute (das heißt, in einem Raumvolumen befindet sich mehr Wasserdampf als unter den gegebenen Bedingungen möglich), bilden sich leicht Eiskristalle. Sie entstehen entweder direkt aus dem Wasserdampf (Resublimation) oder indirekt über den Umweg kleiner Tautropfen, die schließlich zu Eiskristallen gefrieren.
Hierbei fällt auf, dass die Eiskristalle im Wesentlichen die gezähnten Blattränder besiedeln. Als eigene geometrische Körper aufgefasst, haben die Spitzen am Blattrand wegen ihres geringen Volumens nur eine kleine Wärmekapazität, aber eine im Verhältnis zum Volumen große Oberfläche. Sie strahlen daher relativ viel Energie ab und kühlen sich folglich wesentlich schneller ab als der übrige Blattkörper. Der Energienachschub von diesem ist einfach nicht rasch genug, um den Effekt auszugleichen.
Selbst wenn der Winter im Großen mit Schnee und Eis knausert, lohnt es sich, kleine Gegenstände zu betrachten wie eben Pflanzenblätter. So erhält man auch dann, wenn die Wetterereignisse sonst wenig spektakulär sind, interessante physikalische Einsichten und kann die vielfältigen Formen entdecken, welche die Natur in der Nähe des Gefrierpunkts hervorbringt.
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