Schlichting!: Wie sich Gurken gen Himmel schrauben
Als ich vor Jahren vom Urlaub zurückkam, staunte ich über dicke Kürbisse im Apfelbaum. Eine der Kürbispflanzen hatte sich offenbar auf den Weg gemacht, ihre schattige Ecke im Garten zu Gunsten eines Platzes an der Sonne einzutauschen. Ich rätselte lange, wie dies innerhalb einiger Wochen geschehen konnte. Dabei blieb ich vor allem an der Frage hängen, wie es die Pflanze geschafft hat, auf den Apfelbaum zu klettern.
Inzwischen weiß ich, dass es der Kürbis ähnlich anstellt wie die Gurke. An deren Beispiel wiederum ist die Erforschung des Aufstiegs rankender Pflanzen besonders weit gediehen.
»Wir mußten annehmen: es walte in der Vegetation eine allgemeine Spiraltendenz«Johann Wolfgang von Goethe
Die meisten anderen Gewächse sind ausreichend stabil, um sich eigenständig aufrecht zu halten. Im Gegensatz dazu sind die Gurke ebenso wie der Kürbis und weitere Arten auf externe Stützen angewiesen, an denen sie sich dem Licht entgegenziehen. Dazu bilden sie Ranken aus, die durch charakteristische Suchbewegungen solche Haltemöglichkeiten ausfindig machen und an ihnen andocken.
Bei der Gurke – wie auch bei zahlreichen sonstigen Pflanzen – können sie sich nur in der Richtung ihrer Unterseite krümmen. Dort sind sie zudem für Reize empfänglich, um im Berührungsfall festzumachen. Für die Suche nach einer passenden Gelegenheit muss sich die Ranke zum einen autonom bewegen können und zum anderen Aktivitäten auslösen, die dann zur Fixierung führen.
Eine junge Ranke ist zunächst eingerollt und streckt sich anschließend in die Länge. Sofort nach Kontakt mit einer möglichen Stütze wird diese von der Ranke umgriffen. Die Reibungskraft wächst exponentiell mit dem Winkel der Umschlingung. Da jede vollständige Windung mit 360 Grad beiträgt, verbindet sich die Pflanze schnell sehr fest. Eine ähnliche Reibungssteigerung gibt es beispielsweise beim Festmachen von Booten: Nach nur wenigen Würfen um einen Poller kann ein einzelner Mensch ein Schiff mit seiner Muskelkraft halten.
Am freien Ende der Ranke setzt sich die Krümmungsbewegung so lange fort, bis die Schlinge insgesamt fest anliegt. Auch an den bis dahin geraden Abschnitten entstehen weitere schraubenförmige Windungen, bis alles straff ist. Die dadurch bewirkte Zugkraft ist so groß, dass sogar die Pflanze selbst ein Stück hochgezogen wird, gegebenenfalls mitsamt der inzwischen gewachsenen Früchte.
Bei genauer Betrachtung der Rankenschraube entdeckt man etwa auf halbem Weg einen Umkehrpunkt im Windungssinn. Das ist reine Notwendigkeit, wie sich mit einem Freihandexperiment leicht demonstrieren lässt. Dazu spannt man ein flaches Gummiband über ein passendes Brett. Anschließend dreht man auf der einen Hälfte mit den Fingern Windungen in das Band. Man kann es nicht verhindern, dass auf der anderen Seite die gleiche Anzahl mit entgegengesetzter Drehrichtung entsteht. Dazwischen liegt dann ein neutrales Stück. Lässt man das auf diese Weise unter Spannung gesetzte Gummi los, so schnellt es in die glatte Ausgangssituation zurück. Bei den Gurkenranken sind die Windungen jedoch irreversibel, weil mit der Verdrillung bleibende physiologische Veränderungen stattfinden.
Wie es zu alldem kommt, konnte erst 2012 eine Forschungsgruppe an der Harvard University in Cambridge klären. Sie wies nach, dass die Spiralbildung keinen aktiven Kraftakt darstellt, sondern letztlich auf eine passive asymmetrische Kontraktion von Zellen zurückgeht. Der Prozess setzt ein, sobald die Ranke sich an der gefundenen Stütze festgeschlungen hat. Von da an bestimmt das Verhalten eines feinen Faserbands das weitere Geschehen. Es durchzieht die Ranke von einem Ende zum anderen. Mikroskopische Aufnahmen zeigen: Das Band verholzt an einer Seite, indem die Zellen Wasser an ihre Nachbarn abgeben. Die halbseitige Schrumpfung führt insgesamt zu einer entsprechenden Krümmung, die sich dem umgebenden weichen Gewebe aufzwingt. Dadurch entsteht Spannung, die zusammen mit der Fixierung der Ranke an ihren Enden zur Verdrillung führt.
Im Gegensatz zu alltäglichen Schraubenfedern werden die Ranken beim Auseinanderziehen nicht einfach nur länger, sondern sie bringen zusätzlich weitere Windungen auf beiden Seiten des neutralen Mittelstücks hervor. Auch diese ungewöhnliche Dynamik liegt an der unterschiedlichen Festigkeit der Zellen innerhalb des Faserbands. Das Harvard-Team baute im Labor mit Hilfe verklebter Silikonschichten ein Band mit einem ähnlich exotischen elastischen Verhalten nach. Vielleicht findet sich irgendwann eine passende technische Anwendung dafür. Bis dahin bleibt das Prinzip der Kürbisgewächse eine Kuriosität der Natur.
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