Schlichting!: Wie verdrillte Fäden zusammenhalten
Vor Jahren besuchte ich auf einem Handwerkermarkt den Stand eines Seilmachers. Mich beeindruckte, wie es möglich war, starkes Tauwerk aus losen, vergleichsweise kurzen Bändern herzustellen, indem diese einfach miteinander verdrillt werden. Ich kaufte mir ein Exemplar, das ich dort eigenhändig herstellen durfte. Später erinnerte ich mich daran, als ich in einem kleinen Fischereihafen das Anlegemanöver eines Kutters beobachtete: Ein einzelner Mensch bremste das Schiff, indem er an einer dicken Leine zog, deren anderes Ende er zuvor mit einer Schlaufe über einen Poller am Kai geworfen hatte; anschließend fixierte er den Kutter mit wenigen Schlingen auf der Seite des Boots. Hier war offenbar wieder die Reibung entscheidend, und ich erkannte, dass beide Phänomene – die Herstellung und die Verwendung des Seils – eng miteinander zusammenhängen.
Die Rundung eines Pollers lenkt die Zugkraft auf das Seil so um, dass es seitlich dagegengedrückt wird. Dabei entfaltet sich Reibungskraft, und sie ist umso stärker, je größer der Winkel der Umschlingung ist. Genauer gesagt wächst die Kraft exponentiell mit dem Winkel und damit mit der Windungszahl. Geht man beispielsweise von einem Reibungskoeffizienten von 0,8 aus, so könnte man bei einer Windungszahl von 3 einer etwa 3 Millionen Mal so großen Kraft standhalten. Durch Verdrehung kann es also zu enormen Reibungskräften kommen.
Diese exponentielle Steigerung spielt auch bei der Arbeit des Seilers die zentrale Rolle. Werden zwei miteinander verdrillte Bänder in die Länge gezogen, so drücken sie gegeneinander. Das intensiviert die Reibung zwischen ihnen enorm. Sofern diese Kraft größer wird als die beim Ziehen ausgeübte, verknüpft das die beiden Fäden so stark, dass sie trotz allen Zerrens nicht voneinander getrennt werden. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Bänder nicht nur einmal, sondern vielfach umeinandergeschlungen sind. Dann kommt die Reibungsverstärkung an mehreren Stellen und über größere Strecken zur Wirkung.
Schaut man sich Seile genauer an, so stellt man fest, dass sie meist ihrerseits aus einzelnen Garnen aufgebaut sind, die auf dieselbe Weise zusammenhalten. Möglicherweise besteht das Garn seinerseits aus Fäden und so weiter – bis man bei den dünnsten Fasern landet. Auf dieser Größenordnung lassen sich die Zusammenhänge auf ein leichter handhabbares Maß reduzieren und experimentell erkunden.
Hausgemachtes Tauwerk
Dazu bieten sich zum Beispiel Nähgarne oder Wollfäden an, die man zur besseren Unterscheidbarkeit zudem in unterschiedlichen Farben nutzen kann. Ein einfaches Experiment sieht folgendermaßen aus: Man stellt zwei Bündel aus einigen gleich langen Fasern her, indem man diese jeweils an einem Ende miteinander verknotet. Anschließend werden beide so zusammengelegt, dass sich jeweils eine Faser des einen Bündels und eine Faser des anderen der Länge nach berühren. Nimmt man jetzt je einen Knoten zwischen Daumen und Zeigefinger der einen und der anderen Hand, so lassen sich die beiden Bündel durch gegensinniges Drehen miteinander verdrillen. Damit sich zu Beginn die Fäden nicht voneinander trennen, empfiehlt es sich, das lockere Bündel mit zwei oder drei Gummibändern zusammenzuhalten, die man später wieder entfernt.
Bereits nach wenigen Windungen halten die auf diese Weise miteinander verknüpften Fasern gut zusammen und können nur noch gegen beträchtlichen Widerstand auseinandergezogen werden. Durch eine größere Windungszahl und mehr Fasern lässt sich die Zugfestigkeit weiter steigern.
Schließlich ist das so entstandene Seilstück derart stabil, dass es durch Ziehen zwar etwas gestreckt, aber nicht mehr getrennt werden kann. Die Fasern werden bei der Dehnung dünner und rücken enger aneinander. Sie entflechten sich jedoch nicht. Eher zerreißt der Faden schließlich. Der absolute Wert der Kraft, die bei einem gegebenen Bündel dazu führt, hängt bei sonst gleichen Bedingungen letztlich vom Material ab. Für Naturfasern ist sie beispielsweise geringer als bei Nylon, das wiederum Stahl unterlegen ist.
Obwohl die Menschheit seit prähistorischen Zeiten Fäden und Seile herstellt, sind die Details der Vorgänge nach wie vor Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. So sind die französischen Physiker Antoine Seguin von der Université Paris-Saclay und Jérôme Crassous von der Université Rennes dem Thema im Jahr 2022 experimentell und theoretisch nachgegangen. Auf der Grundlage ihrer Ergebnisse haben sie ein statistisches Model erstellt. Es beschreibt das Verhalten des Systems mit mehreren Parametern: dem Winkel der Drehung, dem Reibungskoeffizienten, der Länge der Fasern und dem Radius des Fadens, der sich aus deren Gesamtheit ergibt.
Sie fanden unter anderem heraus, dass die Kraft, die erforderlich ist, um die beiden verdrehten Faserbündel voneinander zu trennen, exponentiell mit dem Quadrat des Rotationswinkels zunimmt – bis der Faden reißt. Die Parameter kombinierten sie zu einer dimensionslosen Größe, die sie Herkuleszahl nannten und die Aufschluss über die Spannungsverhältnisse im Material gibt. Sie ist je nach Textil verschieden und lässt sich nicht beliebig steigern. Beispielsweise reißen manche Fasern leicht, wenn man sie stark verdrillt. Beim Vergleich der optimalen Herkuleszahl mit den empirisch gewonnenen Werten für Alltagstextilien stellten die beiden Forscher große Übereinstimmungen fest.
»Fäden, deren Enden niemand gesichert hat, haben etwas Artistisches«Hans Blumenberg, deutscher Philosoph
Wie die Autoren anmerken, wurde so etwas wie die Herkuleszahl trotz ihrer potenziellen Bedeutung für die Verarbeitung von Fäden bisher offenbar noch nicht definiert. Vielleicht gelingen bei der seit Menschengedenken verfeinerten Kulturtechnik des Seilmachens mit Hilfe solcher Modelle ja einige weitere Optimierungen. Gerade mit modernen Materialien dürften noch Kunststücke möglich sein, die sich im zehntausende Jahre alten Erfahrungsschatz mit Naturstoffen nicht finden.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.