Die fabelhafte Welt der Mathematik: Schokolinsen sorgten für eine mathematische Überraschung
Wenn ich an mathematische Forschung denke, stelle ich mir oft Menschen vor, die einzeln an Schreibtischen sitzen, konzentriert nachdenken und mit einem Bleistift auf einem Blatt Papier herumkritzeln. In vielen Fällen trifft diese Vorstellung wohl auch zu. Doch für Paul Chaikin sah die Arbeit in den 2000er Jahren an der Princeton University anders aus: Sie begann mit einem 200-Liter-Fass voller Schokolinsen.
Chaikin ist Festkörperphysiker, beschäftigte sich aber damals mit der Packung von Objekten – ein notorisches schweres Problem aus der Geometrie. Es dauerte zum Beispiel mehr als 400 Jahre, um zu beweisen, wie sich Kugeln am meisten platzsparend stapeln lassen. Als Physiker bestand Chaikin nicht auf solchen formalen mathematischen Beweisen. Er wollte praktische Fälle untersuchen, bei denen kleine Gegenstände in ein größeres Gefäß gekippt werden, und herausfinden, wie sich die Objekte in solchen Fällen anordnen.
Auch diese Frage hatte Fachleute in der Vergangenheit beschäftigt. So hatte der britische Theologe Stephen Hales im 18. Jahrhundert bei Experimenten mit Erbsen die zufällige Anordnung von Kugeln untersucht. Füllt man Erbsen einfach so in ein Behältnis, etwa einen großen Topf, kann man mit der Hand hindurchfahren, und die Erbsen verhalten sich wie eine Flüssigkeit. Verdichtet man sie hingegen, werden sie unbeweglich: Man kann die Hand nicht mehr in den Topf eintauchen. Das ähnelt einem Phasenübergang von flüssig zu fest. Um solche Vorgänge genau zu untersuchen, überschüttete Hales die Hülsenfrüchte mit Wasser, damit sie aufquellen. So konnte er an den Druckstellen die Berührungspunkte der Erbsen ablesen und darauf schließen, wie sie genau angeordnet sind.
Hales' Experiment sah Chaikin als geeignete Aufgabe für seinen damaligen Studenten Evan Variano an. Denn solche Prozesse spielen in der Festkörper- und Materialphysik eine wichtige Rolle. Gerade amorphe Festkörper wie Glase oder granulare Stoffe setzen sich aus kleinen Bestandteilen zusammen, die sich scheinbar zufällig anordnen und in verschiedenen Phasen (fest und flüssig zum Beispiel) existieren. Deshalb sollte Variano für eine Abschlussarbeit versuchen, die frühen Ergebnisse von Hales zu reproduzieren.
Der Student machte sich also an die Arbeit, schüttete Erbsen in Behältnisse und übergoss sie mit Wasser – ganz so, wie Hales es beschrieben hatte. Doch die Erbsen schwollen durch die Flüssigkeit nicht an. Wie Chaikin später herausfand, werden die Hülsenfrüchte inzwischen so gezüchtet, dass sie nicht aufquellen. Also musste sich der Professor nach einer alternativen Aufgabe für seinen Studenten umsehen. Und da erinnerte er sich an einen Scherz, den sich seine Arbeitsgruppe mit ihm erlaubt hatte.
Chaikins Labor war an der Universität für die ungezwungene Stimmung und Streiche bekannt. An einem Wochenende hatten die Studierenden die Türen zum Labor durch Ziegelsteine ersetzt; am Tag der Geburt von Chaikins erster Tochter hatten sie das Labor vollständig mit Luftballons gefüllt; und irgendwann hatten sie die Elektrik im Büro so eingestellt, dass sich die Beleuchtung ausschaltete, sobald jemand das Telefon abnahm. Und dann war da der Tag, an dem die Studentinnen und Studenten ein 200-Liter-Fass voller M&M's-Schokolinsen in Chaikins Büro schmuggelten, weil es sich dabei um die Lieblingssüßigkeit ihres Professors handelte, der sie leidenschaftlich gern zu seinem Mittagessen aß. Dieses Fass inspirierte Chaikin zu einer neuen Forschungsarbeit für Variano.
Die Süßigkeiten haben eine nahezu perfekte linsenartige Form, Mathematiker sprechen von Rotationsellipsoiden. Chaikin wies Variano daher an, zu untersuchen, wie sich diese Objekte natürlicherweise in Gefäßen anordnen.
Schokolinsen sind viel platzsparender als Kugeln
Schüttet man Kugeln ungeordnet in einen Behälter, dann füllen sie den Raum zu etwa 64 Prozent aus. Das heißt, etwa 36 Prozent des Behälters ist Leerraum. Der Gelehrte Johannes Kepler vermutete bereits im 17. Jahrhundert, dass sich Kugeln am dichtesten packen lassen, wenn man sie wie in einem Obstladen üblich pyramidenförmig übereinanderschichtet. In einer solchen Anordnung füllen die Kugeln 74,04 Prozent des Raums aus – also zehn Prozent mehr, als wenn man sie ungeordnet in ein Behältnis kippt. Der endgültige Beweis, dass diese Anordnung tatsächlich die dichteste ist, ließ lange auf sich warten. Erst 1997 lieferte der Mathematiker Thomas Hales (ein anderer Hales, nicht der mit den Erbsen) mit Hilfe aufwändiger Computerunterstützung den Nachweis.
»Das hat uns umgehauen. Niemand hat ein solches Ergebnis bei zufälligen Packungen erwartet«Paul Chaikin, Physiker
Mit diesem Wissen im Hinterkopf begann Variano, die zufällige Anordnung der M&M-Linsen zu untersuchen. Er und Chaikin erwarteten ein ähnliches Ergebnis wie bei Kugeln – irgendetwas um die 64 Prozent. Doch als Variano seinem Professor die Messwerte vorstellte, zeigte sich dieser skeptisch. »Ich habe den Ergebnissen zuerst nicht geglaubt und es schließlich einfach selbst gemessen«, sagte Chaikin in einer 2004 erschienenen Pressemitteilung. »Und natürlich hatte Evan völlig Recht: Sie sind viel dichter gepackt.« Tatsächlich füllen die willkürlich geschichteten Schokolinsen laut Varianos Versuchen etwa 71 Prozent des Raums – fast so wie optimal geordnete Kugeln. »Das hat uns umgehauen«, erzählte Chaikin. Niemand habe ein solches Ergebnis bei zufälligen Packungen erwartet.
Für seine Forschung in der Materialwissenschaft war das ein wichtiges Ergebnis. Unter anderem arbeitete Chaikin daran, leistungsfähige Keramiken herzustellen, indem er Pulver aus winzigen Partikeln miteinander verschmolz. Ein dichter gepacktes Pulver ergibt eine weniger poröse Keramik, weshalb die Erkenntnisse zu Packungen unterschiedlicher Formen für den Forscher sehr interessant waren.
Chaikin wollte verstehen, warum Schokolinsen dichter gepackt werden können als Kugeln. Dafür musste er die genaue Anordnung der Rotationsellipsoide untersuchen. Also verfrachtete er ein Behältnis mit Schokolinsen in den medizinischen Bereich der Princeton University und ließ einen MRT-Scan davon machen. Außerdem füllte sein Student Ibrahim Crisse Farbe in den Schokolinsen-Behälter (natürlich, als dieser nicht mehr im MRT war). Als sie getrocknet war, holte der Student die Linsen heraus und zählte die jeweiligen farblosen Punkte auf den Süßigkeiten – denn das sind die Kontaktpunkte der Linsen. Crisse stellte durchschnittlich zehn Kontaktpunkte fest, während Kugeln in der Regel sechs Kontaktpunkte aufweisen. Und in einem dritten Ansatz entwickelten der Chemiker Salvatore Torquato zusammen mit seinem Studenten Aleksandar Donev ein Computermodell, das die zufällige Anordnung verschiedener Formen simuliert, unter anderem von Rotationsellipsoiden.
Durch diese Untersuchungen konnten Chaikin und seine Kolleginnen und Kollegen erklären, warum sich Schokolinsen so viel platzsparender anordnen als Kugeln. Denn durch ihre abgeflachte Form wirken Erstere wie kleine Hebel, die dazu führen, dass sich andere Linsen drehen, wenn man sie in ein Behältnis füllt. Diese Drehung destabilisiert die Anordnung. Infolgedessen rücken die Objekte dichter zusammen, bevor sie sich verkeilen. Bei Kugeln ist das hingegen anders: Sie können sich nicht drehen und bilden daher sofort eine stabile Anordnung.
Ellipsoide lassen sich noch dichter packen
Durch das Computermodell konnten die Fachleute ebenso untersuchen, wie sich andere Formen anordnen – etwa Ellipsoide. Diese sind ähnlich wie Schokolinsen geformt, nur dass man sie auch seitlich etwas zusammendrückt. Von oben betrachtet bilden sie also keinen Kreis wie die Schokolinsen, sondern eine Ellipse. Wie die Forschenden herausfanden, ordnen sich Ellipsoide noch dichter an, wenn man sie in ein Behältnis schüttet: Sie füllen bis zu 74 Prozent des Raums aus. Damit sind Ellipsoide in zufälligen Packungen fast genauso dicht gepackt wie optimal angeordnete Kugeln. Das war eine weitere Überraschung für die Fachleute.
In den folgenden Jahren widmete sich Chaikin unter anderem der Frage, was die dichteste Packung von Ellipsoiden sein könnte. Doch noch heute steht eine endgültige Antwort aus. Aktuell gibt es zwei verschiedene Ellipsoid-Anordnungen, die als optimale Kandidaten gelten und eine erstaunliche Dichte von 77 Prozent aufweisen. Ein Beweis könnte aber noch lange auf sich warten lassen – bei der keplerschen Vermutung bezüglich der optimal gepackten Kugeln hat es schließlich auch mehr als 400 Jahre gedauert.
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