Schröders Mobilitäts-Check: Freude an der Last
Den Long John habe ich zum ersten Mal vor Jahren in Friedrichskoog gesehen – einem kleinen Kutterhafen an der Nordsee. Ein Pärchen war unterwegs auf Radtour von Odense in Dänemark zurück nach Hause irgendwo im Ruhrgebiet. Die beiden hatten den Long John direkt in der dänischen Manufaktur gekauft. Als jugendlicher Autohasser war ich sofort begeistert: ein Lastenrad aus schwerem Stahl, mit einer großen Ladefläche, die zwischen Vorder- und Hinterrad liegt, maximale Zuladung 100 Kilo, Ladehöhe plus/minus ein Meter. Ich fragte die zwei, ob ich mal fahren dürfe, und landete fast im Hafenbecken, weil der Wendekreis für ein Fahrrad enorm groß ist. Seitdem wollte ich auch einen Long John haben. Ich musste warten. Erst fehlte das Geld, dann der Platz. Wer in einem Mietshaus wohnt, kriegt den Long John schlecht unter. Für den Fahrradkeller zu sperrig, und draußen rostet er vor sich hin. Seit 15 Jahren haben wir eine Garage und, ich gestehe, ein Auto. Direkt daneben aber steht der Long John. Als unsere Jungs klein waren, haben wir den Kindersitz auf die Ladefläche geschnallt. Die Kinder saßen da wie kleine Könige auf dem Thron. Und die Leute, die uns entgegenkamen, winkten fröhlich. Überhaupt: Egal wo wir mit diesem Riesen-Rad aufkreuzen, am Getränkecenter, um Wasserkisten zu holen, oder bei Aldi, um den Wochenendeinkauf zu erledigen, die Leute lächeln.
Umso mehr hat es mich all die Jahre gewundert, dass wir kaum jemals andere Leute mit Lastenrädern trafen. Dabei – davon bin ich nach wie vor überzeugt – ist das mehr denn je eine Alternative zum Auto; CO2-frei einkaufen, kein Parkproblem, die eigene Pumpe kommt in Schwung. Wozu ein Zweitwagen, wenn es den Long John gibt. Wer eine Garage hat oder einen geräumigen Unterstand, hat auch Platz für so ein Fahrrad. Erst seit wenigen Jahren sehe ich gelegentlich andere Leute mit Lastenräder – dem holländischen Bakfiets zum Beispiel, das Rad mit der hübschen Holzkiste, in der Kinder oder Einkäufe verstaut werden. In den Niederlanden ein Renner, hier noch immer ein Exot, leider. Warum, frage ich mich, kommen die Deutschen in Sachen Transport per Fahrrad nicht in Schwung? Der Zweirad-Industrie-Verband hat noch nicht einmal eine eigene Kategorie für Lastenräder. Die laufen unter ferner liefen zusammen mit Spezialanfertigungen wie Liegerädern. Gerade mal ein Prozent aller Radfahrer nutzt ein Lastenrad. Und der Marktforschungsspezialist Sinus hat herausgefunden, dass 61 Prozent aller Deutschen noch nie von einem Lastenrad gehört haben. Das ist bemerkenswert, denn den Long John gibt es seit den 1930er Jahren.
Angesichts verstopfter Städte, des Klimawandels und der Diskussion um den Feinstaub ist jetzt aber etwas passiert, womit ich eigentlich kaum noch gerechnet hatte: Die Politik hat das Lastenrad auf dem Radar. Das Bundesverkehrsministerium hat vor einiger Zeit erstmals eine Studie zum Potenzial von Lastenrädern in Auftrag gegeben, die »Untersuchung des Einsatzes von Fahrrädern im Wirtschaftsverkehr«. Verkehrsforscher vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) rechnen darin durch, inwieweit Lastenräder den Geschäftsverkehr ersetzen können. Dank dieser Studie weiß ich jetzt, dass der Long John ein »Tieflader« ist, aber auch, dass Lastenräder leicht ein Viertel aller Liefer- oder Kurierfahrten in den Innenstädten übernehmen könnten. Und siehe da: Die Paketboten von der Post oder von UPS treten hier und da schon ordentlich in die Pedale.
Wer in Sachen Lastenrad Oma und Opa fragt, der erntet Kopfnicken. Denn denen waren die Transporter auf zwei Rädern noch recht vertraut. Neulich kam ich vor einem Supermarkt mit einem älteren Stadtstreicher ins Gespräch, der ganz begeistert erzählte, dass er als Jugendlicher für eine Wäscherei unterwegs war. Ganz treffend heißt es in der DLR-Studie: »Fahrräder und Lastenräder waren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein selbstverständliches Transportmittel für Auslieferungs- und Werkverkehre. Auch für gewerbliche Tätigkeiten, bei denen der Gütertransport nicht im Mittelpunkt stand, etwa für Handwerker und Dienstleister, war das Fahrrad ein gebräuchliches Dienstfahrzeug. Die Automobilisierung der Gesellschaft führte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allerdings zu einer Fast-Verdrängung des Fahrrads als Nutzfahrzeug in den meisten Branchen.«
Wer weiß, vielleicht gilt für das Lastenrad schon bald »zurück in die Zukunft«, denn seit dem 1. März 2018 ist die »Kleinserien-Richtlinie zur Förderung der gewerblichen Nutzung von Lasten- bzw. Cargo e-Bikes« in Kraft. Beim Kauf eines Lastenrads gibt es eine Prämie von bis 30 Prozent des Kaufpreises. Antrag beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA). Man darf gespannt sein, wie sich der Verkehr in den Innenstädten dadurch verändern wird.
Doch der Wirtschaftsverkehr ist nicht alles. Auch privat darf man sich gern aufs Lastenrad schwingen. Ich gebe zu: Bei Sauwetter nehme ich lieber das Auto, als den Einkauf auf der Ladefläche durchweichen zu lassen. Aber sonst? Was spricht gegen das Lastenrad? Bequemlichkeit? Sicher, das Rad hat Gewicht. Andererseits sieht es gut aus. Der Long John mit seinem kultigen 30er-Jahre-Design und den Mopedreifen wird leider nicht mehr gebaut. Dafür ist die neue Generation der Lastenräder mit Scheibenbremsen, Kettenschaltung oder E-Motor umso schicker und flotter. Ich warte derweil auf den Tag, an dem ich bei Aldi erstmals mit anderen Lastenradfahrern ins Gespräch komme. Das Warten dürfte sich lohnen, denn der Zweirad-Industrie-Verband attestiert dem Lasten- und Transportrad wachsende Bedeutung. Und auch die Marktforschungsgesellschaft Sinus sieht ein zunehmendes Interesse: Immerhin können sich sieben Prozent aller Befragten vorstellen, ein Lastenrad zu kaufen. Nur eines macht mich etwas stutzig: Laut Sinus haben vor allem Menschen aus den Gesellschaftsmilieus der »Expeditiven, Hedonisten und Liberal-Intellektuellen« Interesse am Lastenrad. Das klingt für mich eher befremdlich, weil ich nicht ganz sicher bin, ob ich mit denen etwas zu tun haben möchte. Da sehe ich es lieber holländisch pragmatisch. Mit (Lasten-)Rädern ist einfach mehr Leben auf der Straße.
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