Kolumnen: Seemannsgarn? Nein, Hirnzwirn!
Mal angenommen, Sie bräuchten einen reißfesten Zwirn, um irgendetwas zu nähen oder aufzufädeln. Wenn man Ihnen dann im Kurzwarenladen »Reissners Faden« anböte, würden Sie doch vermutlich lieber zu einer anderen Marke greifen, oder? »Dr. Mottenlochs Patentwolle« würden Sie ja auch nicht kaufen, wenn es darum ginge, einen Pullover zu stricken, den noch Ihre Enkel tragen sollen.
Dennoch gibt es »Reissners Faden« tatsächlich, ebenso ein kleines Organ im Gehirn, das ihn produziert, das Subcommissuralorgan nämlich. Ein Paradebeispiel schlechten (Wissenschafts-)Marketings – dem muss abgeholfen werden.
Rein marketingtechnisch stellen allerdings Organ und Faden ein gewisses Problem dar, indem der Mensch sie beide nicht besitzt. Was man allerdings rasch wieder ins Positive wenden könnte, und zwar auf zweierlei Arten und Weisen. Erstens könnte man anmerken, dass ein Organ, das man nicht hat, auch keine Probleme machen kann (was sich allerdings als Trugschluss erweisen wird, siehe unten). Zwotens könnte man die konsumorientiert hinterhältige Frage stellen, ob es nicht schön wäre, eines zu haben (sozusagen als Distinktionsmerkmal, das »Must« der Saison – »Haben Sie, Gnädigste, auch schon ein Subcommissuralorgan? Ach … nein? Oh, ich sage Ihnen: Es ist nur allzu reizend …«).
Doch halt: »Fakten, Fakten, Fakten, und immer nur an die Leser denken.«
Das Subcommissuralorgan (SCO) ist ein kleines Etwas, nicht mehr als erbsengroß (beim Elefanten, anderswo entsprechend kleiner) und so ziemlich im Zentrum des Gehirnes gelegen. Und es produziert einen Faden, der »Reissnersche« geheißen, zu Ehren des gleichnamigen Herrn, den Sie im unausweichlichen Postskriptum wieder finden werden. Das SCO hängt, wie ein Lampensockel, von der Decke des zentralen inneren Hohlraumes des Gehirns der Wirbeltiere. Denn sehen Sie: Das Gehirn der Wirbeltiere – und damit auch des Menschen – ist – anders als etwa das der Insekten – inwendig hohl. Das Gehirn fällt damit in eine Kategorie von Organen, die die Anatomen als »Hohlorgane« bezeichnen. Darm und Magen gehören in dieselbe Klasse, womit allerdings nichts über die Funktion des Gehirnes gesagt sein soll. Die inneren Hohlräume des Gehirns sind nicht, wie noch das Mittelalter glaubte, von Gedanken angefüllt, sondern von einer klaren Brühe, die in etwa so zusammengesetzt ist wie die Flüssigkeit, die sich in einer Brandblase sammelt. Liquor cerebrospinalis heißt die Suppe, Trümmer von abgestorbenen Zellen treiben darin, ein paar Proteine, Ionen – ansonsten zu 99,99 Prozent Wasser. Hirnwasser. Es umspült das SCO und den Faden.
Dem Menschen und dem Schimpansen fehlen, wie gesagt, Organ und Faden. Ohne dass ihr Gehirn jedoch signifikant weniger hohl wäre als das der übrigen Wirbeltiere, die fast alle ein ansehnliches SCO und einen Reissnerschen Faden haben. Fledermäusen zum Beispiel fehlt der Faden ebenfalls. Das wird von einigen Forschern als Argument für eine relativ enge Verwandtschaft von Menschen, Primaten und Fledermäusen verwendet. Man kann sich halt seine Verwandtschaft nicht aussuchen. Im Übrigen bliebe anzumerken, dass das einzige andere Säugetier, dem der Faden ebenfalls fehlt, das Kamel ist – also doch lieber die Fledermaus.
Allerdings fehlen Organ und Faden nur dem erwachsenen Menschen. Bei der Geburt haben wir sie noch, sie verkümmern erst in der Kindheit. Und vielleicht haben sie doch mit der Hohlheit des Hirnes zu tun – wenn nämlich das SCO und der Faden schon vorgeburtlich zu klein oder abwesend sind (das kommt bei Ratten wie bei Menschen vor), dann hat das unangenehme Begleitumstände: Es entwickelt sich ein Wasserkopf. Ein Wasserkopf aber ist eine Fehlbildung, bei der die inneren Hohlräume des Gehirns auf Kosten der Wanddicke aufgebläht sind. Was, da man mit den Hirnwänden denkt, schon aufs Gemüt geht. Sie sehen: Auch ein Organ, das man nicht hat, kann Probleme machen.
Gut. Die beiden, Organ und Faden, spielen also vielleicht eine Rolle in der Entwicklung des Gehirns, und aus irgendwelchen Gründen können Mensch, Kamel und Fledermaus später darauf verzichten. Der große Rest der Tierwelt aber nicht. Was, zum Donner, machen die mit ihrem Subcommissuralorgan?
Das SCO, oben im Gehirn, produziert, einer Spinne gleich, den Reissnerschen Faden. Eine faule Spinne allerdings: Nur ein paar Millimeter Faden werden täglich gesponnen. Der Faden besteht – ähnlich wie Spinnenseide – aus Proteinen, ist aber bei Weitem nicht so reißfest, doch ähnlich klebrig. Selbst wenn’s aber nur ein paar Millimeter sind: Irgendwann mal wären die inneren Hohlräume des Gehirns voll von dem verknäulten, klebrigen Garn. Nun, wenn sich auch unsere Gedanken mitunter geradezu gordisch verknoten, der Reissnersche Faden tut es nicht. Er verläuft, schön gestreckt, vom SCO aus abwärts, durch die Hohlräume des Gehirns, hinab ins Rückenmark, das ebenfalls einen zentralen, rohrförmigen Hohlraum hat. Abwärts, abwärts, bis zum Ende des Rückenmarks, wo sich der Hohlraum zu einer kleinen Ampulle erweitert. In der Ampulle wird dann der Faden wieder abgebaut. Teils gelangen die Proteine direkt ins Blut, aber in den Wänden dieser Ampulle sitzen auch Zellen, die den Reissnerschen Faden abbauen, indem sie ihn auffressen. »Phagozytose« nennt man das, wörtlich: »das Essen der Zellen«.
Wie gewonnen, so zerronnen. Erst oben mit viel Aufwand produziert und dann unten gnadenlos zerschreddert und als Müll entsorgt – eine Allegorie auf die schöne, bunte Warenwelt? Ein ironischer Kommentar zu den Rohstoffzyklen der industriellen Produktion? Keiner weiß es. Die Hypothesen zur Funktion, zum Sinn des Ganzen, sind Legion, bewiesen ist keine, aber die reizvollste soll hier vorgetragen werden. Und die geht so: Reissners Faden wird vom Hirnwasser umspült. Er ist klebrig. Im Hirnwasser schwimmen Trümmer von toten Zellen und andere Abfallprodukte. Die bleiben an dem Faden kleben. Und in der Tat: Oben am Produktionsort ist er noch jungfräulich und sauber, unten, in der Ampulle, ist er über und über mit Schrott beklebt. Kennen Sie diese alten, ekligen Klebefallen, wie man sie früher in Küchen aufhängte, um Stubenfliegen zu fangen? Ja? Genauso! Nur automatisch: der Reissnersche Faden als nachwachsende, selbstreinigende Klebefalle im Nervensystem – Schrottentsorgung mit Förderbandeffekt!
Tja. Warum nur, warum hat der Mensch diese Konstruktion nicht mehr nötig? Eine optimistische Antwort würde lauten: Weil sein Gehirn weniger Schrott produziert. Eine kurze, kritische Umschau unter den Produkten des menschlichen Gehirns lässt allerdings Zweifel an dieser Antwort aufkommen, und außerdem war da ja noch das Kamel, das auch keinen Reissnerschen Faden hat.
Und die Moral von der Geschicht? Keine … ein dünnes, klebriges Fädchen und kleine, rätselhafte Organe, die es auf der einen Seite fleißig spinnen und auf der anderen eifrig zerfasern. Vielleicht doch eine Allegorie auf den Schicksalsfaden, das Werden und Vergehen alles Seienden, die klebrige Zähigkeit, mit der uns unser Schicksal, einem Spinnennetz gleich, anhängt? Wer weiß …
Postskriptum:
Alles wahr, ungelogen, kein Seemannsgarn. Ernst Reissner, nach dem der Faden benannt ist, lebte von 1824 bis 1878, er war Anatom in Dorpat (heute: Tartu, in Estland) und Breslau. Auch eine Membran im Ohr (deren Funktion man allerdings kennt) trägt seinen Namen. Ob es tatsächlich einen kausalen, ursächlichen Zusammenhang zwischen der Entstehung des inneren Hydrozephalus (Wasserkopfes) und der Hypo- oder Dysplasie (zu kleinen oder mangelhaften Ausbildung) des SCO gibt, ist unklar – zumindest gibt es die Koinzidenz.
Ich danke Frau Dr. Sandra Schöniger, die Organ und Faden – die ja eigentlich gar nicht eklig, sondern hochspannend sind – fleißig beforscht. Sie hat mir geholfen, diesen Artikel zu verfassen und steht Ihnen unter sschoeniger@rvc.ac.uk für Nachfragen zur Verfügung.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
Dennoch gibt es »Reissners Faden« tatsächlich, ebenso ein kleines Organ im Gehirn, das ihn produziert, das Subcommissuralorgan nämlich. Ein Paradebeispiel schlechten (Wissenschafts-)Marketings – dem muss abgeholfen werden.
Rein marketingtechnisch stellen allerdings Organ und Faden ein gewisses Problem dar, indem der Mensch sie beide nicht besitzt. Was man allerdings rasch wieder ins Positive wenden könnte, und zwar auf zweierlei Arten und Weisen. Erstens könnte man anmerken, dass ein Organ, das man nicht hat, auch keine Probleme machen kann (was sich allerdings als Trugschluss erweisen wird, siehe unten). Zwotens könnte man die konsumorientiert hinterhältige Frage stellen, ob es nicht schön wäre, eines zu haben (sozusagen als Distinktionsmerkmal, das »Must« der Saison – »Haben Sie, Gnädigste, auch schon ein Subcommissuralorgan? Ach … nein? Oh, ich sage Ihnen: Es ist nur allzu reizend …«).
Doch halt: »Fakten, Fakten, Fakten, und immer nur an die Leser denken.«
Das Subcommissuralorgan (SCO) ist ein kleines Etwas, nicht mehr als erbsengroß (beim Elefanten, anderswo entsprechend kleiner) und so ziemlich im Zentrum des Gehirnes gelegen. Und es produziert einen Faden, der »Reissnersche« geheißen, zu Ehren des gleichnamigen Herrn, den Sie im unausweichlichen Postskriptum wieder finden werden. Das SCO hängt, wie ein Lampensockel, von der Decke des zentralen inneren Hohlraumes des Gehirns der Wirbeltiere. Denn sehen Sie: Das Gehirn der Wirbeltiere – und damit auch des Menschen – ist – anders als etwa das der Insekten – inwendig hohl. Das Gehirn fällt damit in eine Kategorie von Organen, die die Anatomen als »Hohlorgane« bezeichnen. Darm und Magen gehören in dieselbe Klasse, womit allerdings nichts über die Funktion des Gehirnes gesagt sein soll. Die inneren Hohlräume des Gehirns sind nicht, wie noch das Mittelalter glaubte, von Gedanken angefüllt, sondern von einer klaren Brühe, die in etwa so zusammengesetzt ist wie die Flüssigkeit, die sich in einer Brandblase sammelt. Liquor cerebrospinalis heißt die Suppe, Trümmer von abgestorbenen Zellen treiben darin, ein paar Proteine, Ionen – ansonsten zu 99,99 Prozent Wasser. Hirnwasser. Es umspült das SCO und den Faden.
Dem Menschen und dem Schimpansen fehlen, wie gesagt, Organ und Faden. Ohne dass ihr Gehirn jedoch signifikant weniger hohl wäre als das der übrigen Wirbeltiere, die fast alle ein ansehnliches SCO und einen Reissnerschen Faden haben. Fledermäusen zum Beispiel fehlt der Faden ebenfalls. Das wird von einigen Forschern als Argument für eine relativ enge Verwandtschaft von Menschen, Primaten und Fledermäusen verwendet. Man kann sich halt seine Verwandtschaft nicht aussuchen. Im Übrigen bliebe anzumerken, dass das einzige andere Säugetier, dem der Faden ebenfalls fehlt, das Kamel ist – also doch lieber die Fledermaus.
Allerdings fehlen Organ und Faden nur dem erwachsenen Menschen. Bei der Geburt haben wir sie noch, sie verkümmern erst in der Kindheit. Und vielleicht haben sie doch mit der Hohlheit des Hirnes zu tun – wenn nämlich das SCO und der Faden schon vorgeburtlich zu klein oder abwesend sind (das kommt bei Ratten wie bei Menschen vor), dann hat das unangenehme Begleitumstände: Es entwickelt sich ein Wasserkopf. Ein Wasserkopf aber ist eine Fehlbildung, bei der die inneren Hohlräume des Gehirns auf Kosten der Wanddicke aufgebläht sind. Was, da man mit den Hirnwänden denkt, schon aufs Gemüt geht. Sie sehen: Auch ein Organ, das man nicht hat, kann Probleme machen.
Gut. Die beiden, Organ und Faden, spielen also vielleicht eine Rolle in der Entwicklung des Gehirns, und aus irgendwelchen Gründen können Mensch, Kamel und Fledermaus später darauf verzichten. Der große Rest der Tierwelt aber nicht. Was, zum Donner, machen die mit ihrem Subcommissuralorgan?
Das SCO, oben im Gehirn, produziert, einer Spinne gleich, den Reissnerschen Faden. Eine faule Spinne allerdings: Nur ein paar Millimeter Faden werden täglich gesponnen. Der Faden besteht – ähnlich wie Spinnenseide – aus Proteinen, ist aber bei Weitem nicht so reißfest, doch ähnlich klebrig. Selbst wenn’s aber nur ein paar Millimeter sind: Irgendwann mal wären die inneren Hohlräume des Gehirns voll von dem verknäulten, klebrigen Garn. Nun, wenn sich auch unsere Gedanken mitunter geradezu gordisch verknoten, der Reissnersche Faden tut es nicht. Er verläuft, schön gestreckt, vom SCO aus abwärts, durch die Hohlräume des Gehirns, hinab ins Rückenmark, das ebenfalls einen zentralen, rohrförmigen Hohlraum hat. Abwärts, abwärts, bis zum Ende des Rückenmarks, wo sich der Hohlraum zu einer kleinen Ampulle erweitert. In der Ampulle wird dann der Faden wieder abgebaut. Teils gelangen die Proteine direkt ins Blut, aber in den Wänden dieser Ampulle sitzen auch Zellen, die den Reissnerschen Faden abbauen, indem sie ihn auffressen. »Phagozytose« nennt man das, wörtlich: »das Essen der Zellen«.
Wie gewonnen, so zerronnen. Erst oben mit viel Aufwand produziert und dann unten gnadenlos zerschreddert und als Müll entsorgt – eine Allegorie auf die schöne, bunte Warenwelt? Ein ironischer Kommentar zu den Rohstoffzyklen der industriellen Produktion? Keiner weiß es. Die Hypothesen zur Funktion, zum Sinn des Ganzen, sind Legion, bewiesen ist keine, aber die reizvollste soll hier vorgetragen werden. Und die geht so: Reissners Faden wird vom Hirnwasser umspült. Er ist klebrig. Im Hirnwasser schwimmen Trümmer von toten Zellen und andere Abfallprodukte. Die bleiben an dem Faden kleben. Und in der Tat: Oben am Produktionsort ist er noch jungfräulich und sauber, unten, in der Ampulle, ist er über und über mit Schrott beklebt. Kennen Sie diese alten, ekligen Klebefallen, wie man sie früher in Küchen aufhängte, um Stubenfliegen zu fangen? Ja? Genauso! Nur automatisch: der Reissnersche Faden als nachwachsende, selbstreinigende Klebefalle im Nervensystem – Schrottentsorgung mit Förderbandeffekt!
Tja. Warum nur, warum hat der Mensch diese Konstruktion nicht mehr nötig? Eine optimistische Antwort würde lauten: Weil sein Gehirn weniger Schrott produziert. Eine kurze, kritische Umschau unter den Produkten des menschlichen Gehirns lässt allerdings Zweifel an dieser Antwort aufkommen, und außerdem war da ja noch das Kamel, das auch keinen Reissnerschen Faden hat.
Und die Moral von der Geschicht? Keine … ein dünnes, klebriges Fädchen und kleine, rätselhafte Organe, die es auf der einen Seite fleißig spinnen und auf der anderen eifrig zerfasern. Vielleicht doch eine Allegorie auf den Schicksalsfaden, das Werden und Vergehen alles Seienden, die klebrige Zähigkeit, mit der uns unser Schicksal, einem Spinnennetz gleich, anhängt? Wer weiß …
Postskriptum:
Alles wahr, ungelogen, kein Seemannsgarn. Ernst Reissner, nach dem der Faden benannt ist, lebte von 1824 bis 1878, er war Anatom in Dorpat (heute: Tartu, in Estland) und Breslau. Auch eine Membran im Ohr (deren Funktion man allerdings kennt) trägt seinen Namen. Ob es tatsächlich einen kausalen, ursächlichen Zusammenhang zwischen der Entstehung des inneren Hydrozephalus (Wasserkopfes) und der Hypo- oder Dysplasie (zu kleinen oder mangelhaften Ausbildung) des SCO gibt, ist unklar – zumindest gibt es die Koinzidenz.
Ich danke Frau Dr. Sandra Schöniger, die Organ und Faden – die ja eigentlich gar nicht eklig, sondern hochspannend sind – fleißig beforscht. Sie hat mir geholfen, diesen Artikel zu verfassen und steht Ihnen unter sschoeniger@rvc.ac.uk für Nachfragen zur Verfügung.
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main.
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