Sex matters: Wie viel Sex brauchen ältere Menschen?
»Vor einigen Monaten ist mein langjähriger Partner verstorben. Sehr plötzlich, ein Herzinfarkt. Er war wie ich Anfang 70, und wir hatten eine wunderbare, innige Verbindung. Ein großes Glück, denn für uns beide war es bereits die zweite Beziehung. Jetzt fühle ich mich sehr allein. Mir fehlt ganz besonders die körperliche Nähe. Es fällt mir wahrlich nicht leicht, das auszusprechen. Oft frage ich mich, ob es normal ist, so zu fühlen. Darf ich mir denn nach zwei erfüllten Partnerschaften noch eine neue Verbindung und körperliche Nähe wünschen?« (Elisabeth*, 72 Jahre alt)
Der Verlust des Partners markiert für viele Senioren einen harten Einschnitt in ihrer sexuellen Entwicklung. Kein Partner – kein Sex, keine Zärtlichkeit. Und wenn trotzdem Wünsche da sind, redet man nicht darüber. Sex im Alter ist immer noch ein Riesen-Tabu. In der Öffentlichkeit und in den Köpfen vieler Menschen spielt Sexualität ab einem gewissen Lebensalter einfach keine Rolle mehr. Weil die meisten von uns ihn mit Geschlechtsverkehr und Zeugung verbinden. Sobald Fortpflanzung nicht mehr möglich ist, hat Sex in der gesellschaftlichen Wahrnehmung auch keine Berechtigung mehr.
Neulich in einer Kleinstadt: Ein Bewohner des örtlichen Seniorenheims bittet einen Pfleger, ihn zum örtlichen Freudenhaus zu fahren. Während er bei der Sexarbeiterin zu Besuch ist, wartet draußen das parkende Auto mit der Aufschrift des Seniorenheims. Bei den Passanten ist die Empörung groß. Es dauert nicht lange, bis die Einrichtung entrüstete Briefe bekommt. Weil ein »alter Mann« die Dienste einer Prostituierten in Anspruch genommen hat. Der Mann ist Schlaganfallpatient, sitzt im Rollstuhl, ist erst 50 Jahre alt und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Doch darum geht es hier nicht. Ich erzähle davon, weil ich finde: Dieses Beispiel zeigt recht gut, wie ungewohnt es für Jüngere ist, Älteren sexuelle Aktivität zuzugestehen.
Fehlendes Kuscheln kann krank machen
Dabei brauchen Menschen in jedem Lebensalter Sexualität. Es muss nicht unbedingt genitale Sexualität sein, aber wir brauchen lebenslang menschliche Nähe. In Form von Berührungen, Streicheln und Liebkosungen. Fehlendes Kuscheln kann sogar krank machen. Eine Studie mit mehr als 400 Teilnehmenden hat das genauer untersucht. Zwei Wochen lang haben die Forschenden erfasst, wie häufig Männer und Frauen umarmt oder geküsst wurden. Dann setzte man sie einem Erkältungsvirus aus. Von den viel kuschelnden Menschen wurden deutlich weniger krank als in der Gruppe der Unterkuschelten. Bei den Infizierten wiederum wurden jene schneller gesund, die regelmäßig umarmt und geherzt wurden.
Unsere Sexualität kann sich ein Leben lang verändern. Die meisten älteren Menschen definieren sie noch einmal neu. Wenn wir die sexuelle Entwicklung mit einem Hausbau vergleichen, dann läuft das so: In jungen Jahren stecken Paare eine Menge Energie in Bau und Einrichtung. Es folgen Jahre der Neuanschaffungen und des Möbelrückens, vielleicht auch Umbau und Sanierung. Irgendwann wandern Dinge auf den Sperrmüll, und womöglich wird den Paaren bewusst: So viel brauchen wir gar nicht. Wir nutzen nur noch einen kleinen Teil unseres Hauses und sind happy damit. Weniger ist mehr. Genitale Befriedigung war gestern – schon allein der körperlichen Grenzen wegen. Zärtlichkeiten sind das neue Wohnen.
Sex im Alter: Auf der Wunschliste stehen Zärtlichkeiten ganz oben
Die meisten Menschen nehmen das gelassen hin. Forschende der Universität Rostock haben zwölf Jahre lang Paare zu ihrer sexuellen Zufriedenheit befragt. Die Paare waren zu Beginn durchschnittlich 63, am Ende der Studie 74 Jahre alt. In den Jahren hatte sich für die Paare einiges verändert. Die körperliche Fitness nahm ab. Die Paare hatten nicht mehr so häufig wie früher Geschlechtsverkehr.
Trotzdem blieben die Werte für sexuelle Zufriedenheit stabil – weil Zärtlichkeit auf der Wunschliste der Sexualität ganz nach oben rückte. 91 Prozent der Männer und 81 Prozent der Frauen fanden im Alter von 74 Jahren Zärtlichkeit besonders wichtig. Hand in Hand durch den Wald zu spazieren oder eng beieinander auf einer Parkbank zu sitzen, kann für Senioren das höchste sexuelle Glück bedeuten.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Wenn der Partner oder die Partnerin stirbt, ist es damit auf einen Schlag vorbei. Etwas fehlt und scheint für immer verloren. Viele Senioren finden sich damit ab und ziehen sich komplett zurück. Sie scheuen sich, Liebe und Sexualität zu thematisieren. Die Generation der heute 80- bis 90-Jährigen ist in einer Zeit aufgewachsen, als über Sex zu sprechen verpönt war. So was tut man im ehelichen Schlafzimmer, aber man redet nicht darüber.
Deswegen plädiere ich dafür, die Älteren darauf anzusprechen und neue Türen zu öffnen. Vielleicht ist es die einfache Frage an Oma oder Opa: Kann ich dich bei der Partnersuche unterstützen? Ihnen ein Angebot zu machen – und nicht darauf zu warten, dass sie das Thema von sich aus anschneiden.
Nur wenige, wie meine Klientin Elisabeth, trauen sich, das Bedürfnis nach Zärtlichkeit zu formulieren. Natürlich habe ich sie in ihren Wünschen bestärkt. Nach einigen Sitzungen war Elisabeth überzeugt, dass es normal und ganz in Ordnung ist, sich Nähe und Zärtlichkeit zu wünschen, sich vielleicht auch wieder neu zu verlieben. Es kann sogar sein, dass mit den Frühlingsgefühlen auch die sexuellen Wünsche neu aufleben. Denn die sexuelle Entwicklung ist nie ganz vorbei: Es gibt immer einen Cliffhanger.
Und nun sind Sie dran: Den Koffer fürs Alter packen
Wie stellen Sie sich Ihr Sexleben im Alter vor? Achten Sie einen Tag lang bewusst darauf, wann Sie im Alltag Zärtlichkeit erleben: Momente, die nicht von körperlicher Fitness abhängen, jenseits von genitalem Sex. Packen Sie in Gedanken einen Koffer, in den Sie alles hineinlegen, was Sie in die nächsten Dekaden Ihres Lebens mitnehmen möchten.
* Name von der Redaktion geändert.
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