Sex matters: Beim Penis einfach mal locker lassen
»Mein Freund und ich sind sehr verliebt. Aber wir haben kaum Sex. Ich glaube, das liegt an meinem Penis. Er ist zu klein und hat so eine Krümmung, die ich nicht mag. Eigentlich will ich gar nicht, dass ihn jemand sieht. Seit ich mit meinem Freund zusammen bin, ist das ein großes Problem. Er sagt zwar, dass es ihm egal ist, wie mein Penis aussieht. Aber wenn er mich anschaut, ist es mir jedes Mal total peinlich. Es ist, als würde ich nackt mitten im Stadion stehen. Unter Flutlicht. Und alle starren auf ›mein Ding‹ da. Das bringt mich um, und Sex funktioniert im Moment überhaupt nicht.«
(Max*, 29 Jahre alt)
Die Leute erwarten, dass der Penis funktioniert. Und dass er groß ist. Stark. Gerade. Der Penis soll einfach gut aussehen. Und selbst das reicht nicht. Er soll auch immer bereit sein. Erektionen sollen hart sein. Der Mann als Ganzes soll stark und groß sein. Er darf keine Schwäche zeigen. Versagen – bitte nicht. Der Penis ist das Symbol dafür. Ich kann nur sagen: Es ist verrückt, welcher Druck auf der Vorstellung von Männlichkeit und Penis lastet. Dabei hat das Bild vom Penis mit der Realität wenig zu tun. Und genau das macht sehr vielen Männern Stress.
Als Max und sein Partner Georges zu mir in die Praxis kamen, waren sie sehr unglücklich. Sie hatten keinen Sex miteinander, weil Max mit seinem Penis unzufrieden war. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was Georges an ihm fand. Er wertete sich ständig ab, vor allem im Vergleich zu seinem Freund. Denn der hatte einen geraden und großen Penis, alles war perfekt, und warum sollte Georges Max sexy finden? Interessanterweise passte das überhaupt nicht zu dem, was Georges über Max sagte. Er fand ihn nämlich toll und wollte einfach gerne Sex mit ihm haben. Aber Max fühlte sich so unter Druck, dass er in körperlichen Momenten mit Georges keine Erektion bekam. Er war davon überzeugt, dass sein Penis einfach nicht gut genug sei. Sexualität wurde in Max’ Kopf rein auf die Funktionalität von Körpern reduziert.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Menschen denken Penisse größer, als sie sind. Das fängt schon im Sexualkundeunterricht an. Wenn Jungen üben, ein Kondom überzustreifen, dann oft an enormen und geraden Holzpenissen. Und die Größe bleibt ein absurdes Dauerthema. Es werden Witze über Penis- und Nasengrößen gemacht. Gleichzeitig gibt es zu wenig realistische Informationen über Penisgrößen. Zum Beispiel bei Kondomen. Ich erlebe immer wieder, dass Jugendliche XXL-Varianten kaufen, weil sie denken, das sei die Norm oder das, was es beim Sex braucht.
Männer haben unrealistische Vorstellungen von der Penisgröße – das sagt auch der Psychologe Bruce M. King von der amerikanischen Clemson University. Er hat anhand von insgesamt 43 Studien Fakten mit Fiktionen verglichen. Die Studien, in denen Männer die Maße ihres erigierten Penis selbst bestimmen sollten, ergaben eine durchschnittliche Länge von 15,75 Zentimetern. In einer Studie mit homosexuellen Männern lag die selbst gemessene Penislänge sogar bei 16,5 Zentimetern. Der Psychologe untersuchte daraufhin Studien, in denen Forschende die Länge gemessen hatten. Diese Studien ergaben eine durchschnittliche Länge von 13,61 Zentimetern. Fazit: Es gibt einen messbaren Unterschied zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
»Penisverbot« kann sich lohnen
Was hilft Männern, entspannter mit der Realität umzugehen? Ich glaube, es ist wichtig, sich von der Fokussierung auf den Penis zu lösen. Schauen wir doch mal, was alles Lust machen kann. Wo sonst will mein Körper geküsst oder gestreichelt werden? Kennen wir eigentlich alle unsere erogenen Zonen und Lustzentren?
Ich habe Max und Georges vorgeschlagen, eine lustvolle Körperlichkeit zu entdecken, bei der der Penis völlig außen vor bleibt. Die erste Aufgabe: einander näherkommen, streicheln und küssen. Und, wichtig, dabei bleibt der Unterleib »angezogen«. Es herrscht Penisverbot, damit alles, was Max unter Druck setzt, erst einmal außen vor bleibt. Keine Blicke, keine Berührungen. Der Penis war tabu wie eine frisch gestrichene Parkbank: bitte nicht anfassen!
Übrigens glaube ich, dass eine solche Übung ganz allgemein eine gute Investition in die Zukunft ist. Wer in jungen Jahren Sex ohne Penis ausprobiert, hat im späteren Leben einen Vorteil. Etwa ab dem 40. Lebensjahr nimmt der Testosteronspiegel bei Männern ab. Jahr für Jahr, ganz allmählich, verändern sich Erregbarkeit, Erektionen und Libido. Wer dann schon weiß, wie Sex ohne Penis-Fokus funktioniert, kommt mit diesen Veränderungen besser klar.
Zurück zu Max und Georges. Als die beiden zur dritten Sitzung kamen, war ich gespannt, ob und wie sie Zärtlichkeit ohne Penis erlebt hatten. Ja, sagte Georges, sie hätten es ausprobiert, und er sei überrascht, wie intensiv er dabei Lust empfunden habe. Und Max erzählte, dass er diese Art des Zusammenseins sehr genossen habe. Sie hatten den ersten Schritt in eine Körperlichkeit getan, die sie genießen konnten.
Weg mit der Vorstellung von Härte, Größe und Stärke
Was so einfach klingt, ist ein langer Weg. Ich habe Menschen erlebt, die Tag für Tag mit Polstern in der Unterhose ins Büro gegangen sind, weil sie das Gefühl hatten, ohne sichtbaren Penis nichts wert zu sein. Zu mir kommen Menschen, die wegen Penisproblemen bewusst keine sexuelle Beziehung eingegangen sind. Aus Angst, dass der andere sie nicht will. Ich erlebe immer wieder Männer, die jahrelang beim Solo-Sex bleiben. Das Selbstwertgefühl ist verloren gegangen, und es ist ein Prozess, es wieder aufzubauen. Aber es ist möglich, wenn man die Erfahrung macht: Hey, der andere findet mich wirklich toll. Dem ist es egal, wie bestimmte Körperteile aussehen.
Dann kann man die nächsten Schritte gehen. Mit Max und Georges habe ich überlegt, welche Sexualpraktiken für sie in Frage kommen. Vom Küssen bis zur Stimulation der Prostata haben wir besprochen, was Lust macht – und was nicht. Oralverkehr haben wir ausgeschlossen, weil dabei der Penis besonders unter Beobachtung steht. Aber aufeinanderliegen, im Dunkeln fühlen, das war gut. Und nach Monaten konnten wir darüber reden, wann und wie der Penis berührt werden möchte.
Eigentlich ist die Erkenntnis, die beide mitgenommen haben, ganz einfach. Doch sie bedeutet auch, Abschied zu nehmen von alten Vorstellungen. Weg mit der Vorstellung von Härte, Größe und Stärke. Neue Bilder müssen her: Ein Penis kann weich sein. Ein Penis muss nicht steif sein. Ein Penis ist nicht das Zentrum, sondern ein Teil der Sexualität. Wir alle sind viel mehr als unsere Genitalien. Haut, Lippen, Hände und andere sehr individuelle erogene Zonen wie auch die Prostata dürfen mehr Aufmerksamkeit bekommen. Je mehr Möglichkeiten ich habe, Lust beim Sex zu erzeugen, desto entspannter funktioniert es.
* Name von der Redaktion geändert.
Und nun sind Sie dran
Was macht Liebe und Nähe aus? Schauen Sie sich Fotos an, auf denen Sie mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin zu sehen sind – am liebsten Schnappschüsse. Was sehen Sie? Was ist auf den Bildern zu erkennen, das ein liebevolles Miteinander ausdrückt? Welche Form von Zärtlichkeit entdecken Sie auf Bildern von Paaren? Finden Sie dreimal Nähe und Wärme für Ihre eigene Wirklichkeit.
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