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Sex matters: Bauchgefühl statt Angst vor Fremden

Aus Sorge vor sexuellen Übergriffen trichtern manche ihren Kindern Angst vor Fremden ein. Dabei brauchen Kinder Vertrauen und positive Erfahrungen, findet unser Kolumnist Carsten Müller.
Schatten von einem Kind und einem Erwachsenen
Eine pauschale Angst vor Fremden schützt kaum vor sexuellen Übergriffen. Was Kinder brauchen, ist die Gewissheit, dass sie ihre Bedürfnisse artikulieren dürfen und damit von Vertrauenspersonen ernst genommen werden (Symbolbild).

»Letzte Woche tauchte im Eltern-Chat eine alarmierende Warnung auf: Vor der Schule würde öfter ein weißer Kastenwagen parken. Der Fahrer würde gezielt Kinder ansprechen. Das ging wie ein Lauffeuer durch unser gesamtes Viertel. Niemand wusste was Konkretes, aber sogar aus dem Kindergarten unserer Tochter kam auf einmal die Bitte, wir sollten den Kindern erklären, dass sie sich vor Fremden in Acht nehmen müssen. Ich möchte eigentlich nicht, dass unsere Kinder Angst vor unbekannten Menschen haben. Hier ist in 20 Jahren noch nie ein Kind gekidnappt worden. Jetzt frage ich mich, ob ich vielleicht zu sorglos bin?«
(Frage eines Vaters bei einem Infoabend zum Thema sexualisierte Gewalt)

Der Fremde vor der Schule. Der weiße Kastenwagen. Der Unbekannte, der es auf die Kinder abgesehen hat: Was dieser Vater auf einem Elternabend berichtet, hören Eltern in ganz Deutschland immer wieder. Viele versetzt das regelrecht in Panik. Sie impfen ihren Kindern ein, bloß nicht mit Fremden zu sprechen, niemals in ein fremdes Auto zu steigen und schon gar keine Bonbons von Unbekannten anzunehmen. Das wirkt. Ich habe schon erlebt, dass Kinder wegrennen, wenn Spaziergänger einfach nur grüßen.

Aber ich verstehe die Sorge. Mehr noch: Ich finde es gut, wenn sich Eltern Gedanken darüber machen, wie sie ihre Kinder vor sexualisierter Gewalt und Übergriffen schützen können. An dem Infoabend habe ich dem Vater trotzdem geantwortet: Nein, Sie sind nicht zu sorglos. Und es ist gut, die Warnung, die durch den Chat lief, zu hinterfragen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Kind von einem Fremden entführt und sexualisierte Gewalt erfahren wird, ist tatsächlich sehr gering.

Ein Blick auf die Zahlen: Die polizeiliche Kriminalstatistik 2022 legt zwar dar, dass rund 40 Prozent der angezeigten Tatverdächtigen in Fällen von sexualisierter Gewalt an Kindern Fremde sind – während etwa 58 Prozent aus dem familiären und sozialen Umfeld stammen. Diese Statistik weicht laut Aussage der Kriminalisten jedoch von den realen Verhältnissen ab. Die Dunkelziffer in Fällen von sexualisierter Gewalt im familiären und sozialen Umfeld – dazu zählen auch Schule, Sport, Verein, Kirchengemeinde – ist weit höher als die Zahl der Fälle, die angezeigt werden. Weil Anzeigen schwerer fallen, wenn der kompetente Fußballtrainer oder die geliebte Patentante unter Verdacht stehen.

Die Arbeit der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, bei der 1752 Betroffene befragt wurden, zeichnet ein realistischeres Bild. Hier waren nur sieben Prozent der Täter Fremde. Sonst fand der Missbrauch in Familie, Institutionen, im sozialen Umfeld oder in organisierten, rituellen Strukturen statt.

Die Warnung vor dem unbekannten Fremden im weißen Kastenwagen reduziert also ein wichtiges Thema auf die absolut unwahrscheinlichste Möglichkeit. Damit helfen wir Kindern nicht. Aber wie dann?

Kinder sollten zuallererst wissen, dass sie ihre Bedürfnisse äußern dürfen. Darüber hinaus sollten sie eine Ahnung haben, dass es überall Menschen geben könnte, die »doofe Dinge« mit ihnen machen könnten. Zu Hause, im Ferienlager, beim Sport, unter Freunden. Und dass es andererseits Erwachsene gibt, die sie um Hilfe bitten dürfen. Die sie ernst nehmen, wenn sie sich über etwas beschweren.

Eine ganz banale, aber alltägliche Situation: Wenn ein Kind auf der Straße von älteren Jugendlichen bedroht wird, sollte es das Gefühl haben, anwesende Erwachsene um Hilfe bitten zu können – und nicht Angst vor ihnen haben, weil es Fremde sind.

Wichtig ist, dass bei Kindern ankommt: Egal, wer doof zu dir ist – du darfst darüber reden. Üben können wir das an kleinen Dingen. Der feuchte Kuss von der Tante: völlig okay, sich dem zu entziehen. Die Eltern und Bezugspersonen sind dafür zuständig, die Interessen ihres Kindes zu vertreten und sich mit der Tante darüber auseinanderzusetzen. Klar kann das anstrengend sein. Vielleicht redet das Kind auch mal mit Freunden über Dinge, die in der Familie passieren. Was den Eltern mitunter saupeinlich ist. Gut so! Lassen Sie Ihr Kind reden! Denn so wächst die Wahrscheinlichkeit, dass es nach einem sexuellen Übergriff darüber spricht.

Gleichzeitig bleibt das Bedürfnis, Kinder vor dem berüchtigten Fremden zu schützen. Auf dem Elternabend gab es gleich mehrere Ideen. Einen GPS-Tracker. Standort-Apps. Ein Codewort, das nur Eltern und Kind kennen – und wenn der Fremde das nicht nennen kann, soll das Kind schnell wegrennen.

Ich schätze das Bemühen der Eltern, Sicherheit für ihre Kinder zu schaffen. Doch auch hier möchte ich auf die Lebenswirklichkeit verweisen. Normalerweise würden Eltern die Schule informieren, wenn ein Kind abgeholt werden muss. Tracker und Apps gaukeln Scheinsicherheit vor. Kein sexueller Übergriff wird dadurch verhindert. Und ein Codewort verschiebt die Verantwortung, sich zu schützen, zum Kind. Aber nicht die Kinder sind für ihre Sicherheit zuständig, sondern Erwachsene.

Das Thema Prävention werde ich in einer künftigen Kolumne noch gesondert aufgreifen. Hier jedoch schon mal ein Tipp für den Alltag: Stärken Sie Ihr Kind, indem Sie ihm zeigen, dass es Dinge gibt, die es nicht aushalten muss. Das können Kleinigkeiten sein. Ein Besuch bei Oma steht an, aber du willst unbedingt noch Playmobil spielen? Okay, lass uns einen Kompromiss vereinbaren – ich rufe an und sage, dass wir eine halbe Stunde später kommen. Das sind Momente, von denen Kinder profitieren.

Angst dagegen nützt herzlich wenig. Kinder brauchen Vertrauen und positive (körperliche) Erfahrungen. Sie müssen wissen, dass sie von Erwachsenen ernst genommen werden. Und wenn andere übergriffig sind, werden sie den Unterschied spüren. Sie werden ein gutes Bauchgefühl entwickeln. Das bringt mehr als Tracker oder Codewörter. Das sichere Gefühl dafür, was uns guttut oder nicht, leitet uns ein Leben lang durch unterschiedlichste Situationen – und das können wir schon als Kind lernen.

Und nun sind Sie dran: Ein Nein akzeptieren

Denken Sie an gestern. Oder an einen Tag der letzten Woche. Wann gab es Momente, in denen Ihr Kind etwas nicht tun wollte? Überlegen Sie, was passiert wäre, wenn Sie einen Kompromiss ausgehandelt hätten. Wäre etwas wirklich Dramatisches passiert? Oder wäre es eigentlich ganz okay gewesen, das Nein zu akzeptieren?

Finden Sie eine Situation, in der Sie auf das eingehen, was das Kind will. Diese Akzeptanzübung funktioniert übrigens auch in Bezug auf die eigene Kindheit: Wo hätten Sie sich gewünscht, dass Ihre Eltern Ihr Nein hätten gelten lassen?

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