Sex matters: Mein Kind ist homosexuell – was nun?

»Neulich kam unser Sohn zu uns. Er ist 15. Es war ihm anzusehen, dass er etwas auf dem Herzen hatte. Dann hat er sich geoutet: Mama, Papa, ich steh auf Jungs. Wir waren überrascht, haben aber gleich gesagt, dass das für uns völlig okay ist. Dann haben wir angefangen, ihm Fragen zu stellen, zum Beispiel, ob er einen Freund hat. Er sagte, das sei seine Sache, und ging in sein Zimmer. Seitdem haben wir nicht mehr mit ihm darüber gesprochen. Jetzt fragen wir uns: Wie können wir ihn bei seinem Outing unterstützen?« (Valerie*, 42, und Luis*, 41)
Aus Sicht von Valerie und Luis war dieses erste Gespräch zu wenig. Aber vielleicht wollte ihr Sohn nicht weiter darüber sprechen, sondern die Eltern einfach »nur« informieren. Wie Eltern am besten damit umgehen, kann von Fall zu Fall verschieden sein. Sie können weitere Gespräche anbieten, aber wenn das Kind nicht mit ihnen darüber reden möchte, haben sie das zu respektieren.
Vielen Eltern, die zu mir kommen, ergeht es wie Valerie und Luis. Manche machen sich alle möglichen Sorgen um ihren Sohn oder ihre Tochter: Sie fürchten Mobbing, Geschlechtskrankheiten, andere Ungewissheiten. Sie wollen beschützen, unterstützen. Manchmal erlebe ich auch Eltern, die vor allem mit sich selbst beschäftigt sind oder sich sogar darüber beklagen, was das Kind ihnen damit zumute. Dabei geht es in dieser Situation gar nicht um sie.
Sorgen extern klären
Eltern sind für ihre Kinder verantwortlich, nicht umgekehrt. Wichtig ist, dass sie ihr Kind nicht mit all ihren Fragen und Sorgen überrollen, sondern diese bei sich lassen und sich bei Bedarf selbst Hilfe suchen. Valerie und Luis haben das getan, indem sie zu mir in die Beratung kamen. Für die erste Stunde hatten sie eine Liste mit Dingen mitgebracht, die sie beschäftigten. Die Sorge, dass ihr Sohn diskriminiert werden könnte. Die Frage, ob sie es jetzt ihrerseits der ganzen Verwandtschaft erzählen sollen. Und die Überlegung: Was hätten wir sagen können, damit er sich gut fühlt?
Die Reaktion der Eltern kann bei einem Outing lebenswichtig sein. Das meine ich wörtlich. Denn Jugendliche, die homosexuell oder bisexuell sind, haben ein signifikant höheres Suizidrisiko. Das liegt nicht an der sexuellen Orientierung selbst, sondern an der Ausgrenzung und Abwertung, die einige nach ihrem Outing erfahren. Zahlreiche Studien belegen das. Eine Befragung in Spanien etwa zeigte 2023 nicht nur, dass homo- und bisexuelle Jugendliche eher an Suizid dachten, sondern auch, dass Unterstützung durch die Eltern ihr Wohlbefinden steigerte und die Suizidalität teilweise minderte.
Die unausgesprochene Botschaft lautet: »Ich bin homosexuell. Kann ich weiter auf euch zählen?«
Zurück zum Anfang. Was sagt man als Erstes, wenn das Kind sich outet? Wie wäre es mit diesem Satz: »Danke, dass du uns das anvertraust.« Denn Vertrauen ist entscheidend. Schließlich geht es nicht um eine Fünf in Mathe, sondern um tiefe Gefühle. Ein Outing vor den Eltern bedeutet, dass das Kind eine Liebesversicherung braucht. Die unausgesprochene Botschaft lautet: »Ich bin homosexuell. Kann ich weiter auf euch zählen?« Hier ist eine wirklich gute Antwort der Eltern gefragt. Sie könnte zum Beispiel lauten: »Egal, wen du liebst und wie du dein Leben lebst: Wir werden dich immer lieben und unterstützen.«
Nicht ohne Erlaubnis weitererzählen
Manche Eltern haben das dringende Bedürfnis, ihren Freunden vom Outing ihres Kindes zu erzählen. Moment! Ich rate Eltern, das nicht eigenmächtig zu entscheiden, sondern ihr Kind zu fragen. Will es wirklich, dass die Freunde der Eltern wissen, dass es homosexuell ist, oder soll das erst einmal vertraulich bleiben?
Eltern haben eine große Verantwortung, mit der anvertrauten Information gut umzugehen. Stellen Sie sich vor, Ihr Kind wäre heterosexuell. Würden Sie dann Ihren Freundinnen erzählen, dass Ihr Sohn auf Mädchen steht? Wahrscheinlich nicht. Außerdem: Jeder Mensch möchte selbst entscheiden, wer etwas über seine sexuelle Orientierung erfährt. Das ist ein wichtiger Teil der sexuellen Selbstbestimmung. Respektieren Sie es also, wenn jemand nicht über seine Sexualität sprechen möchte. Die Schule muss es nicht wissen, die Freunde nicht und die Großtante schon gar nicht.
Über Homosexualität im Allgemeinen dürfen Eltern dagegen gerne sprechen – zum Beispiel dann, wenn sich jemand in ihrem Beisein, etwa auf einem Familienfest, abfällig darüber äußert. Eltern sind nach dem Outing ihres Kindes mehr denn je in der Verantwortung, Respekt für unterschiedliche sexuelle Lebensentwürfe zu zeigen. Wenn ein Onkel einen blöden Witz über Schwule reißt, dann ist es ihre Aufgabe, sehr deutlich zu sagen: »Lass das!« In solchen Momenten erlebt das Kind: Meinen Eltern ist das nicht egal. Die stehen für mich ein.
Keine ungebetenen Ratschläge
Ansonsten wäre mein Tipp, Homosexualität nicht zum Dauerthema im Alltag zu machen. Widerstehen Sie der Versuchung, jede Nachricht oder Filmszene zu kommentieren. Das kann nämlich nerven. Wenn Sie sichergehen wollen, dass Sie Ihren Sohn oder Ihre Tochter nicht mit ungebetenen Kommentaren oder Ratschlägen überhäufen, fragen Sie Ihr Kind einfach: Willst du meine Meinung dazu hören?
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Zurück zu Valerie und Luis. Die beiden wollten von mir wissen, wie sie mit ihrem Sohn ins Gespräch kommen. Sollten sie ihm Bücher zum Thema anbieten? Oder ihn fragen, ob er auch wirklich sicher sei? Oder von ihren eigenen schwulen Bekannten erzählen? Nichts davon. Der Sohn wird längst selbst Experte sein. Er wird sich mit dem Thema und allem, was dazugehört, intensiv auseinandergesetzt haben. Wenn Sie mit Ihrem Kind reden wollen, schaffen Sie zuerst den richtigen Rahmen. Fragen Sie es, wann und wo es ihm passt. Und dann ist ein guter Einstieg: »Was brauchst du jetzt von uns?«
Beim zweiten Besuch in der Praxis erzählten Luis und Valerie, dass das zweite Gespräch gut verlaufen sei. Ihr Sohn hatte sich eigentlich nur eines gewünscht: dass seine Eltern niemandem sonst erzählen, dass er schwul ist. Das konnten Valerie und Luis akzeptieren. Darüber hinaus gab es nicht viel. Es gab auch keinen Jungen, in den er verliebt war. Er wollte nur, dass seine Eltern es wissen. Für ihn war es wichtig, seine sexuelle Orientierung zu benennen und nichts verstecken zu müssen.
* Namen von der Redaktion geändert
Jetzt sind Sie dran:
Gibt es in Ihrem Alltag Situationen, in denen andere Menschen auf Homosexuelle oder Transpersonen schimpfen oder Witze über sie machen? Hören Sie ein paar Tage genau hin. Suchen Sie nach Gelegenheiten, Haltung zu zeigen. Manchmal hilft schon eine einzige unerwartete Reaktion, um Menschen dazu zu bringen, ihr Verhalten zumindest zu überdenken.
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