Sex matters: Warum langweiliger Sex super ist
»Wir sind seit Jahren zusammen, haben mittlerweile zwei Kinder, ein schickes Haus – alles in allem führen wir eine glückliche Ehe. Aber wir schlafen seltener miteinander als früher, und wenn wir Sex haben, ist der ziemlich langweilig. Wir wissen genau, wann es losgeht und was wann passiert. Es wäre schön, wenn es wieder wie früher sein könnte.« (Juliane*, 37, und Felix*, 39)
Es mag hart klingen, aber Fakt ist: »Früher« ist für immer vorbei. Das Gute: Das muss überhaupt nichts Schlimmes sein. Die Sexualität von Paaren formt sich im Lauf der Beziehung. »In den ersten beiden Jahren, der Phase der Paarbildung, ist Sexualität eine prominente Möglichkeit, Intimität zu erleben und auszudrücken und eine intime Beziehung aufzubauen«, haben die Autorinnen und Autoren der Pilotstudie »Liebesleben Deutschland« im Jahr 2017 festgestellt. Es folgt die Gewohnheit. Das, was einmal aufregend war, verliert mit der Zeit den Reiz des Neuen.
Was dann? Sämtliche Fantasien austesten und so viele Sextoys wie möglich nutzen, um die gemeinsame Sexualität weiterzuentwickeln? Vielen Paaren, die in meine Praxis finden, haben weder sexuelle Akrobatik noch Zubehör wie Fesseln, Dildos oder Penisringe geholfen. Zum einen schafft das nicht automatisch aufregenderen Sex, zum anderen kann es sogar Druck machen: Wer nicht enorm experimentierfreudig ist, fürchtet womöglich, unzureichend zu sein, wie mir Klienten immer wieder berichten.
- Die Kolumne »Sex matters«
Was ist guter Sex? Was hält mich davon ab? Und wie schaffe ich es, meine Vorstellungen umzusetzen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der Sexual- und Paartherapeut Carsten Müller in dieser Kolumne (hier in Bild und Ton). Seit 2013 berät er in seiner Duisburger Praxis zu Fragen rund um Sexualität und Partnerschaft. Auch Sie möchten ein Thema für die Kolumne vorschlagen? Dann schreiben Sie eine E-Mail an: Liebe@spektrum.de
- Wer kann weiterhelfen?
Die Kolumne soll dazu anregen, über eigene Bedürfnisse und Grenzen nachzudenken. Sie ersetzt weder eine ärztliche Beratung noch das persönliche Gespräch mit einem Therapeuten. Wenn man allein nicht weiterweiß, kann es helfen, mit jemandem zu sprechen, der sich auskennt. Im deutschsprachigen Raum gibt es zahlreiche Therapie- und Beratungsangebote – hier eine Auswahl:
Eine Übersicht über Beratungsstellen geben die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und die Organisation pro familia. Mit Sextra bieten Teams von pro familia Beratung per Onlineformular und Mail. Therapeutenlisten – geordnet nach Name oder Postleitzahl – führen etwa die Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung, die Deutsche Gesellschaft für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft sowie das Institut für Sexualtherapie. Jugendliche finden Hilfe auf sexundso.de.
Was manche beruhigen dürfte: Vaginalverkehr ist bei den 36- bis 45-Jährigen laut der GeSiD-Studie besonders beliebt – 90 Prozent der Männer und 89 Prozent der Frauen favorisieren ihn, auch in Langzeitbeziehungen. In Sachen Sex ist es ein wenig wie beim Essen: Man muss nicht ständig etwas Neues ausprobieren, um glücklich zu sein.
Ich zum Beispiel mag es im Restaurant gerne klassisch: Mein Favorit ist und bleibt die Pizza Funghi. Die schmeckt hervorragend, macht satt und zufrieden, und weil ich Pilze einfach lecker finde, würde ich sie nie mit Brokkoli, Salami und Tunfisch kombinieren. Da es bloß um eine Pizza geht, erwartet das auch niemand von mir.
Was brauchen Sie beim Sex, um glücklich zu sein?
Bezogen auf Sex hingegen geht das Gerücht, er könne erst dann richtig toll sein, wenn man möglichst abgefahrene Dinge ausprobiert. Dabei ist die grundlegende Überlegung ganz simpel: Was brauchen Sie beim Sex, um glücklich zu sein?
Ich habe dem Paar aus dem Fallbeispiel in der Beratung genau diese Frage gestellt. Nähe sei wichtig, antworteten beide. Sie wünschten sich, Zeit miteinander zu verbringen. Und das Gefühl, vom jeweils anderen wahrgenommen zu werden. Sie wollten einander spüren und sich fallen lassen können. Auf einmal drehte sich nicht mehr alles um Performance und Frequenz, sondern um Erleben und Fühlen.
Erfüllenden Sex erleben Menschen, die es schaffen, sich von der Vorstellung der perfekten Zusammenkunft zu verabschieden, die einem in Filmen, im Internet oder in der Werbung immer wieder begegnet. Alles ist frisch, sauber, ästhetisch. Niemand schwitzt, müffelt oder pupst. Zudem haben beide Partner stets exakt zum selben Zeitpunkt Lust aufeinander. Dieses Bild von Sexualität ist total unrealistisch. Welche Frau empfängt ihren Mann in Satinwäsche? Welcher Kerl lungert den halben Tag lüstern auf dem Sofa herum?
Alltagssex läuft anders ab. Zunächst braucht es eine Anbahnung, die eintönig sein kann oder abwechslungsreich. Macht immer dieselbe Person den ersten Schritt? Gibt es Rituale, etwa: Wissen beide schon freitags, dass es sonntags nach dem Tatort miteinander ins Bett geht? Oder gibt es Überraschungen? Wie wäre zum Beispiel statt Fernsehkrimi eine spannende Partie Backgammon am Sonntagabend, weil man dabei schon immer die besten Gespräche geführt hat?
Beglückender Sex beginnt in der Sekunde, in der man sich aufeinander einlässt. Die Möglichkeiten sind vielfältig. Denn so einzigartig die Bedürfnisse jedes Einzelnen sind, so einzigartig sind die Bedürfnisse jedes Paares. Das macht den Sex spannend.
Irgendwas läuft schief?
Sex langweilig zu finden, ist das eine. Das andere ist eine veränderte Lust. Zahlreiche Faktoren können diese beeinflussen: beispielsweise Stress, Angstzustände, Depressionen und weitere Krankheiten sowie bestimmte Medikamente. Wenn einer dieser Punkte auf Sie, Ihren Partner oder Ihre Partnerin zutrifft, ist es empfehlenswert, sich damit auseinanderzusetzen und möglicherweise ein Gespräch mit einem Arzt und/oder einem Therapeuten zu führen.
Mit Juliane und Felix habe ich ihre ganz eigenen Wünsche und Möglichkeiten ausgelotet. Wir haben darüber gesprochen, dass normalerweise immer er den ersten Schritt macht, aber sie sich wünscht, das auch mal zu tun. Dass sie auch dann einen Orgasmus haben möchte, wenn er schon fertig ist. Dass zärtliches Kuscheln auf der Couch ein Teil gemeinsam gelebter Sexualität ist. Dann haben wir überlegt, wie der Rahmen für all das aussehen kann. Welche Varianten es in der Anbahnung sexueller Momente gibt und wo Sexualität stattfinden kann. Auf einmal waren da lauter neue Ideen gegen die Eintönigkeit: eine flirtige WhatsApp ins Büro, ein liebevoller Zettelgruß hinter der Windschutzscheibe oder heimliches Knutschen im Hausflur auf der Party der Nachbarn.
Zwei Monate später sah ich die beiden wieder. Sie hatten sich eine Woche zuvor zum ersten Mal in ihrer Heimatstadt für eine Nacht ein Hotelzimmer genommen und die Kinder bei den Großeltern geparkt, um Zeit füreinander zu haben. Sie sagten, dass sie zwar nicht öfter Sex hätten und dieser von außen betrachtet immer noch gleich »langweilig« sei. Aber weil das Drumherum so abgefahren wäre, sei ihnen das völlig egal. Im Gegenteil: Der vermeintlich öde Klassiker sei in diesem Setting absolut aufregend.
Und nun sind Sie dran: Raum für Sexualität
Richten Sie sich einen Raum ein, in dem Sie Sex haben möchten. Wie ist das Mobiliar, die Temperatur, das Licht? Stellen Sie sich den Raum möglichst konkret vor. Oder: Stellen Sie sich einen Ort vor, an dem Sie Sex haben möchten. Wie sieht es dort aus? Teilen Sie Ihrem Partner zunächst mit, was Sie glauben, was ihm oder ihr wichtig ist. Danach stellen Sie sich gegenseitig vor, was Sie sich überlegt haben. Überlegen Sie, was Sie von diesen Ideen in Ihr reales Leben mitnehmen möchten. Schauen Sie gemeinsam, wie Sie weiter damit umgehen! Die Übung bietet eine gute Gelegenheit für einfühlsamen Austausch und Selbstreflexion.
* Namen von der Redaktion geändert
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