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Sex matters: Offen für alles?

Mehr ausprobieren – gerne! Aber man sollte das Spielfeld vorher gemeinsam eingrenzen, so der Rat von Sexualtherapeut Carsten Müller. Sonst drohe etwaigen Experimenten ein vorzeitiges Ende. Eine Kolumne
Schwarze Stöckelschuhe vor einem Bett
Stöckelschuhe sind ein gängiges erotisches Accessoire. Dennoch sollten sich Paare vorab darüber verständigen, ob und an wessen Füßen sie mit ins Bett dürfen.

»Neulich habe ich mit meinem Mann darüber gesprochen, dass wir in unserem Sexleben mehr ausprobieren könnten. Ich habe ihm gesagt, dass ich für alles offen bin. Einige Tage später hatten wir Sex. Ich war total verwirrt: Er trug dabei Stöckelschuhe. Das hat ihn irgendwie erregt. Mich hat das total überfordert. Bei mir ging gar nichts mehr. Er hat das natürlich gemerkt und war richtig irritiert, weil er dachte, das ist okay für mich. Ich hatte ihm ja quasi einen Freibrief gegeben, und dann reagiere ich so abwehrend. Wir wissen beide im Moment nicht, wie wir damit umgehen sollen.« (Rahel, 51)*

Was für ein gewagter Satz: »In Sachen Sex bin ich für alles offen.« Aber das höre ich oft. Und frage mich dann, ob die Leute es wirklich so meinen. Meine These: Sie haben eigentlich keine Ahnung, was da auf sie zukommen kann.

Stellen Sie sich mal vor, es geht um Ihr Zuhause: Sie machen die Haustür weit auf – und wissen nicht, wer kommt. Sie wissen nicht, ob Ihnen der Besucher gefällt. Und noch weniger wissen Sie, was passiert, wenn er erst einmal im Haus ist. Eine komische Vorstellung, oder?

Dennoch scheint die Welt von uns zu erwarten, dass wir die Tür in Sachen Sex weit aufmachen. Der Druck ist größer geworden. Swingerclub, Dreier, offene Beziehungen – überall und ständig werden wir damit konfrontiert, dass das irgendwie dazugehört. Wer das nicht gut findet, gilt als schamhaft und prüde.

Das ist Quatsch. Die Realität sieht anders aus, als wir sie uns vorstellen. Ein Beispiel aus meiner Praxis: Ich erlebe viele Jugendliche, die annehmen, dass Analverkehr als fester Bestandteil von sexuellen Aktivitäten »irgendwie dazugehört«. Tatsächlich gaben in einer deutschen Studie aus dem Jahr 2019 aber weniger als ein Fünftel der jungen Erwachsenen an, dass sie im Jahr zuvor Analverkehr hatten. Und ob der Verkehr auch gut war, steht noch einmal auf einem anderen Blatt.

Was, wenn die Illusion der Offenheit und die Realität aufeinandertreffen und einfach nicht zusammenpassen? Genau das ist bei Rahel und ihrem Mann passiert und hat zu einer Situation geführt, die beide zutiefst verunsichert hat. Im Gespräch mit den beiden wollte ich herausfinden: Was genau war schiefgelaufen?

Zunächst einmal hatten sie etwas getan, was ich allen Paaren rate. Sie hatten über ihre Vorstellungen von gelebter Sexualität gesprochen. Er wollte mehr ausprobieren, sie wollte es auch. In dem Moment kam es zu ihrer Aussage: »Ich bin offen für alles.« Danach gab es jedoch keine weiteren Fragen, keinen Austausch darüber, was genau er oder sie sich vorstellen könnte. Beide hatten etwas im Kopf, aber keine Ahnung, was im anderen vorging, und das war ihnen nicht einmal bewusst. Als Rahels Mann seine Fantasie dann in die Tat umsetzte, wurde seiner Frau plötzlich klar: »Mein Mann – mit hohen Schuhen beim Sex? Das übersteigt meine Vorstellungskraft.« Und schon war es vorbei mit der Offenheit.

»Offenheit bedeutet auf keinen Fall, dass man alles ausprobieren muss«

Das ist in Ordnung. Ich kenne niemanden, der für alles offen ist. Das muss auch nicht sein. Denn wer für alles offen ist, schafft große Unsicherheit. Für sich selbst und für den Partner. Besser ist es, eine klare Auswahl zu treffen. Wie an einem Büfett: Ich schaue, was es zu essen gibt. Ich weiß, dass ich weder Blumenkohl noch Brokkoli mag, aber auf Rosenkohl habe ich große Lust.

Übertragen auf die Sexualität heißt das: Offenheit ist gut, sofern sich die Beteiligten bewusst dafür oder dagegen entscheiden können. Offenheit bedeutet auf keinen Fall, dass man alles ausprobieren muss. Und schon gar nicht, dass man sich alles gefallen lassen muss. Offenheit kann bedeuten, dass ich mir etwas vom Büfett nehme, das ich noch nie probiert habe. Schnuppern: Habe ich Appetit auf das, was da vor mir steht? Einen Happen probieren: Möchte ich einen ganzen Teller davon, oder ist es doch nicht so lecker?

Wenn das Experiment schiefgeht

Für Paare heißt das: miteinander reden, sich im Gespräch an das Neue herantasten. Diesen Schritt haben Rahel und ihr Mann übersprungen. Die Folge war, dass er extrem beschämt aus der Situation herausging. Mit dem »Schuh-Experiment« hatte er sich schutzlos ausgeliefert und eine schockierte Reaktion erlebt. Kein gutes Gefühl, weder für ihn noch für seine Frau.

Bei jedem Menschen gibt es Dinge, die jenseits der Vorstellungskraft liegen. Gerade im Bereich der Sexualität ticken wir sehr individuell. Was also tun, wenn wir merken: Oha, dafür bin ich nicht bereit – aber ich bin schon mittendrin?

Rahels Mann war derjenige, der in dieser Situation die Stopptaste gedrückt hat. Denn er hatte das klare Gefühl: Hier stimmt etwas nicht! Meine Frau kann sich überhaupt nicht entspannen.

»Offenheit hat ihre natürlichen und legitimen Grenzen«

Wie können die beiden mit dem Geschehenen umgehen? Rahel wusste jetzt etwas, was ihr zuvor unbekannt war: Ihren Mann erregte es, hohe Schuhe zu tragen. Was nun? Ich empfehle, in solchen Fällen einen Schritt zurückzugehen. Das hilft fast immer. Und dann zu vereinbaren, wie es weitergeht. Wir haben gemeinsam besprochen, dass es für sie in Ordnung war, wenn er die Fantasie hatte – solange er die High Heels nicht beim gemeinsamen Sex trug.

Viele Menschen wären übrigens in der gleichen Zwickmühle wie Rahel, wenn wir den Satz »offen für alles« immer wörtlich nehmen würden. Ein Beispiel: Kennen Sie Leute, die behaupten, sie würden immer und jederzeit offen über Sex reden? Ich behaupte: Das stimmt nicht. Mit Freunden vielleicht – doch mit den eigenen Eltern sieht das schon anders aus. Sobald diese Menschen mit Mutter und Vater über ihre Sexualpraktiken sprechen müssten, würden sie merken, dass Offenheit ihre natürlichen und legitimen Grenzen hat.

Völlige Offenheit bringt wenig. Ganz im Gegenteil. Sie gibt meinem Gegenüber keine Orientierung, sondern verunsichert. Ich schiebe dem anderen die ganze Verantwortung dafür zu, wie der Sex läuft. Und dann? Dumm gelaufen, wenn der eine etwas ausprobiert, was dem anderen gar nicht passt.

Wenn ich mit jemandem Sex haben will, ist es viel angenehmer, wenn ich seine Vorlieben kenne. Es gibt mir ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens, wenn ich weiß: Das, was ich tue, mag diese Person. Die meisten Menschen, die zu mir in die Praxis kommen, wollen ihren Partner oder ihre Partnerin erregen. Sexualität ist erfüllend, wenn wir gemeinsam lustvolle Momente erleben. Und genau deshalb sage ich: Niemand muss für alles offen sein. Denn Sex mit Orientierung ist viel schöner als ein Blindflug ins Ungewisse.

* Name geändert

Und nun sind Sie dran: Was geht gar nicht?

Machen Sie sich Ihre Grenzen bewusst. Gehen Sie fünf Minuten lang in Gedanken alles durch, was Ihnen beim Thema »Sexualität und Offenheit« in den Sinn kommt. Was käme für Sie gar nicht in Frage? Notieren Sie das. Und finden Sie dann für jedes No-Go eine Alternative, die Sie sich ganz konkret vorstellen können.

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