Freistetters Formelwelt: Silberner Schnitt und Plastikzahl
Der »goldene Schnitt« beschreibt mathematisch, wie man eine Strecke in zwei unterschiedlich lange Abschnitte teilen kann, die eine besondere Eigenschaft haben. Das Verhältnis der gesamten Strecke zum größeren Teil entspricht dabei dem Verhältnis des größeren Teils zum kleinen. Diese Proportion gilt als besonders »harmonisch« und soll deswegen bevorzugt in der Kunst eingesetzt worden sein. Sie hat aber noch andere Eigenschaften, durch die dieses spezielle Verhältnis auch in der Natur oft auftaucht.
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So prominent der goldene Schnitt ist, so unbekannt ist dagegen der »silberne Schnitt«. Er wird durch diese Formel beschrieben:
Er unterscheidet sich vom goldenen Schnitt nur durch den Faktor 2 vor dem a. Hier ist das Verhältnis des größeren Teils der Strecke a zum kleineren Teil b gleich dem Verhältnis der doppelten Länge der gesamten Strecke zum größeren Teil. Das klingt zugegebenermaßen nicht mehr ganz so elegant wie beim goldenen Schnitt. Aber rein mathematisch ist es eben nur eine andere Art, wie man eine Strecke aufteilen kann.
Der goldene Schnitt wird durch eine »goldene Zahl« beschrieben, die gleich dem Verhältnis der beiden Seitenlängen ist. Ihr Wert folgt aus der positiven Lösung der einfachen quadratischen Gleichung x2 – x – 1 = 0 (und beträgt näherungsweise 1,618…). Der silberne Schnitt hat eine entsprechende »silberne Zahl«, für die man die Gleichung x2 – 2x – 1 = 0 lösen muss. Ihr Wert beträgt 2,414213… (und entspricht der Wurzel aus 2 plus 1).
Im Gegensatz zum goldenen Schnitt trifft man die silbernen Proportionen nicht ganz so häufig an. Kinofans, die sich einen Fernsehapparat im Breitbildformat angeschafft haben, werden aber sehr häufig auf ein näherungsweises »silbernes Rechteck« schauen. Im Kino erzeugt man besonders breite Bilder, von denen viele auf einem Gerät mit dem Bildschirmformat 21:9 ohne störende Streifen direkt angezeigt werden können. Das Seitenverhältnis der Bilder liegt dabei zwischen 2,35:1 und 2,4:1, und somit in direkter Nähe des silbernen Schnitts.
Eine ganze Bande von Metallzahlen
Ein »bronzener Schnitt« ließe sich analog zu Gold und Silber mit der Gleichung x2 – 3x – 1 = 0 konstruieren. Aus x2 – 4x – 1 = 0 kann man einen »kupfernen Schnitt« ableiten (oder welches Metall man auch immer gerne der Bronze folgen lassen möchte). Die argentinische Mathematikerin Vera Martha Winitzky de Spinadel hat 1999 eine komplette Familie »metallischer Schnitte« definiert und untersucht, in dem sie das Muster der quadratischen Gleichungen einfach immer weitergeführt hat.
Plastik kam in dieser Aufzählung nicht vor. Aber die Mathematik hat natürlich auch eine »Plastikzahl« in ihrem Fundus. Es handelt sich um die Lösung der kubischen Gleichung x3 – x – 1 = 0 – genauer gesagt, um die reelle Lösung, die beiden ebenfalls existierenden Lösungen mit komplexen Zahlen werden hier ignoriert.
Die Zahl beginnt mit 1,324717957…, und ihr Name hat eigentlich gar nichts mit dem entsprechenden Material zu tun. Er stammt von dem niederländischen Mönch und Architekten Hans van der Laan, der die Zahl als Grundlage seiner architektonischen Theorie verwendete und mit »plastisch« die dreidimensionalen Gestaltungsmöglichkeiten beschreiben wollte. 1956 entwarf er die Neubauten der Abtei St. Benediktusberg in der Provinz Limburg – siehe Titelbild – und verwendete dabei Proportionen, die seiner Plastikzahl entsprachen.
Gold, Silber, Bronze oder Plastik: Die Mathematik stellt auf jeden Fall nur die Werkzeuge bereit. Welche ästhetischen Ansprüche von den diversen »metallischen« Seitenverhältnissen befriedigt werden – oder nicht –, kann sie nicht berechnen. Das müssen wir selbst entscheiden, dafür gibt es keine Formel.
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