In Bestform: »Slacklinen trainiert unzählige Teile des Körpers«
Slacklinen ist ein Trendsport: Kaum ist der Sommer da, sieht man im Park und am See wieder Menschen, die über ein Kunstfaserband balancieren. Wer das auch schon einmal ausprobiert hat, weiß: Es ist nicht leicht. Sportwissenschaftler Markus Gruber von der Universität Konstanz verrät, wie es am besten klappt.
»Spektrum.de«: Herr Gruber, was braucht man, um Slacklinen zu lernen?
Eigentlich braucht man nichts außer einer Slackline. Und man muss auf einem Bein stehen können. Ich würde sagen, wer jung und gesund ist, erfüllt alle Voraussetzungen. Slacklinen ist aber wirklich schwierig zu lernen. Das würde ich nicht jedem empfehlen.
Warum nicht?
Schon eine Fallhöhe von wenigen Zentimetern kann gefährlich sein, man fällt ja am Anfang recht unkontrolliert. Keiner kommt ohne Sturz davon. Für Kinder ist das kein Problem, die fallen runter und stehen wieder auf, aber eine ältere Person unter Umständen nicht. Deshalb würde ich davon abraten, das ohne Anleitung zu üben.
Sie und Ihre Arbeitsgruppe bringen Menschen das Balancieren auf dem Seil bei, richtig?
Genau. Wir untersuchen beispielsweise, was sich in Gehirn und Rückenmark von Menschen verändert, die lernen, auf einer Slackline zu gehen. Die Eingangsvoraussetzung für Studienteilnehmer lautet: Sie dürfen noch nie auf einer Slackline gestanden haben, denn das würde unsere Ergebnisse verfälschen.
Wie gehen Sie vor, wenn Sie jemandem Slacklinen beibringen?
Wenn die Person jung und sportlich ist, werde ich mit ihr direkt auf einer Slackline üben, die sehr knapp über dem Boden aufgespannt ist, so dass Angst eine untergeordnete Rolle spielt. Außerdem kann sie sich mit einer Hand an einer anderen Person festhalten, die zu diesem Zweck mitläuft. Das macht die Übung deutlich einfacher. Sobald sie sich sicher fühlt, kann sie die Hand wegnehmen, und wenn sie unsicher wird, soll sie sich wieder festhalten. Am Ende ist das dann nur noch eine ganz leichte Berührung. Das hilft, einen Referenzpunkt zu finden. Letztendlich nimmt man auch diesen weg – die Person lernt, sich selbst ausgleichen.
Gibt es eine Altersgrenze, sprich: Kann auch ein 60-Jähriger noch Slacklinen lernen?
Wenn man gesund ist, würde ich sagen: ja. Irgendwann reicht die Kapazität sicherlich nicht mehr aus. Mit 90 Jahren ist es wahrscheinlich nicht mehr möglich. Aber das hängt natürlich von vielen Faktoren ab.
Von Sportler zu Sportlern
Auf einer Slackline zu balancieren, sei nicht für jeden erstrebenswert, sagt Markus Gruber. Er selbst habe genug geübt, um problemlos eine Bahn gehen zu können, hege aber keine Ambitionen, dies noch besser zu lernen. Viel wichtiger sei es, dass man Spaß am Sport hat. Der Sportwissenschaftler fährt gerne Fahrrad, spielt im Sommer Golf und geht im Winter skifahren und langlaufen.
Von welchen zum Beispiel?
Nicht nur die Muskelkraft und die allgemeine Leistungsfähigkeit nehmen im Alter ab, sondern auch die Anzahl der Rezeptoren, die Signale aus der Umwelt empfangen. Sie sitzen beispielsweise in Auge und Innenohr, in den Muskeln und Sehnen und ermöglichen es uns, unsere Position und unsere Bewegungen im Raum zu erfassen. Zum Lernen brauchen wir dieses Feedback, also eine Rückmeldung der Sensoren über das, was wir tun. Weil deren Dichte im Lauf des Lebens abnimmt, können wir im Alter schlechter lernen. Aber das wird nie null: Man hat immer die Möglichkeit zu lernen.
Wie sieht der Trainingsplan aus, wenn Sie älteren Menschen Slacklinen beibringen?
Wenn ich eine Person habe, die weit davon entfernt ist, auf einer Slackline gehen zu können, muss ich mit einer einfacheren Übung beginnen. Ich ziehe eine Linie oder lege ein Band auf den Boden. Man hat also einen festen Untergrund, der nicht schwingt. Die Person bekommt dann zunächst mal die Aufgabe, darauf zu gehen oder auf einem Bein zu stehen. Als Nächstes vielleicht mit geschlossenen Augen. Ich versuche, die Übung so schwierig zu gestalten, dass sie fordernd, aber machbar ist. Irgendwann, wenn auch nach deutlich längerer Zeit als bei fitten jungen Menschen, klappt es dann ebenso bei Älteren, auf dem Seil zu balancieren.
Wie lange brauchen Ihre Probanden im Schnitt, um Slacklinen zu lernen?
Junge, gesunde Menschen schaffen es in der Regel nach einer Woche, auf dem Seil stehen zu bleiben. Wenn sie zweimal pro Woche üben, schaffen sie es in vier bis sechs Wochen, ohne Hilfestellung ein paar Schritte darauf zu gehen. Erst nach monatelangem oder sogar jahrelangem Üben ist man in der Lage, problemlos mehrere Bahnen zu gehen. So lange Studien führen wir allerdings nicht durch.
»Ohne tägliches Üben ist Hochleistungskoordination schlichtweg nicht möglich«
So etwas wie Naturtalente gibt es also nicht?
Es gibt tatsächlich Menschen, die genetisch bedingt über eine bessere motorische Kontrolle verfügen und Bewegungen schneller lernen als andere. Mit Hilfe von Zwillingsstudien hat man ermittelt, dass die genetische Prädisposition ungefähr 50 Prozent ausmacht. Es gibt also eine gewisse Veranlagung – umgangssprachlich nennt man das »motorische Begabung«. Aber ein großer Teil ist Übung. Das kann man praktisch in jedem Sport sehen. Es gibt niemanden, der ohne Hunderttausend oder Millionen von Wiederholungen eine anspruchsvolle Bewegung oder Bewegungsfolge perfekt ausführen kann. Jemand, der das beruflich macht, übt jeden Tag – nicht nur ein Spitzensportler, sondern auch beispielsweise ein Berufsmusiker. Ohne tägliches Üben ist Hochleistungskoordination schlichtweg nicht möglich.
Verlernt man das Slacklinen auch wieder? Im Volksmund heißt es ja, gewisse Bewegungen wie Fahrradfahren verlerne man nicht, selbst wenn man sie lange Zeit nicht gemacht hat. Ist da was dran?
Wenn man aufhört zu üben, verlernt man das Slacklinen wieder, wie alles andere auch. Wenn ich den ganzen Sommer Fahrrad gefahren bin, im Winter pausiert habe und mich dann im nächsten Frühjahr wieder aufs Rad setze, dann kann ich selbstverständlich noch fahren. Ich komme vorwärts und falle nicht um. Aber die motorische Qualität hat sich deutlich verschlechtert. Der Tritt ist nicht mehr so rund, weniger koordiniert und weniger effizient. Viel gravierender sind die Folgen natürlich, wenn jemand wochenlang nicht laufen kann. Bei unseren Bettruhe-Studien liegen die Probanden 60 Tage lang im Bett. Danach können sie kaum noch gehen.
Also bleibt uns nichts anderes übrig, als regelmäßig zu trainieren.
Genau. Wenn ich eine bestimmte Bewegung 100-mal mache, verstärke ich die Muster, die zum Erfolg führen. Das ist klassisches Feedback-Lernen.
Was passiert dabei im Gehirn?
Gerade bei Bewegungen, bei denen die Gleichgewichtskontrolle eine zentrale Rolle spielt, sehen wir in allen beteiligten Strukturen des Gehirns große Veränderungen, sogar auf der Ebene des Rückenmarks. Die gesamte motorische Kontrolle verändert sich. Durch die Bewegung werden bestimmte Hirnareale angesprochen. Sind diese gemeinsam aktiv, arbeiten sie effizienter zusammen. Dem liegt ein physiologischer Prozess zu Grunde, den man als Langzeitpotenzierung bezeichnet. Dazu braucht das Nervensystem aber ein Feedback, quasi eine Rückmeldung über den Erfolg der Bewegung.
Etwa: Yeay, diese Bewegung war gut, ich bin nicht runtergefallen.
Genau.
»Wir sehen keinen Transfer in andere Gleichgewichtsaufgaben«
Studien legen nahe, dass wir immer öfter stürzen, weil der moderne Lebensstil unserem Gleichgewicht schadet. Kann ich dem vorbeugen, indem ich Slacklinen lerne?
Das hat man bis vor 10 bis 15 Jahren behauptet. »Man bekommt ein besseres Gleichgewicht«, hat man gesagt. Dadurch könne man Informationen aus der Umwelt besser aufnehmen und eine bessere motorische Antwort bilden. Die Studien, die wir jetzt machen, stellen das in Frage. Wir haben herausgefunden, dass der Effekt offenbar sehr spezifisch für die jeweilige Aufgabe ist. Demnach ist Gleichgewicht keine Fähigkeit, sondern eine Fertigkeit.
Was bedeutet das?
Wenn ich gut jonglieren kann, heißt das nicht, dass ich beim Basketball mehr Freiwürfe schaffe. Das sind spezifische Fertigkeiten, die man jeweils einzeln lernen muss. Slacklinen ist eine sehr spezifische Koordinationsfertigkeit, die einem hilft, auf einem solchen Band stehen und gehen zu können. Wir sehen aber keinen Transfer in andere Gleichgewichtsaufgaben. Eine Sturzsituation im Alltag ist keineswegs vergleichbar mit dem, was ich auf der Slackline mache.
Das ist nicht sehr motivierend.
Das Problem ist, dass wir zu einfach denken. Wenn ein älterer Mensch auf einer Slackline gehen kann, bringt er ja noch ganz viel anderes mit: Er braucht nicht nur Millionen von Nervenzellen, die die Bewegung organisieren, sondern auch seine gesamte Rumpfmuskulatur, die ihn dabei stabilisiert. Die Arme sind wichtig, genauso die Beinmuskulatur. Er muss über eine gewisse Beweglichkeit im Sprunggelenk und in der Hüfte verfügen, um die Bewegungen auszugleichen, die beim Gehen über das wacklige Band entstehen. Slacklinen trainiert unzählige Teile des Körpers – praktisch alles. Bei Seniorinnen und Senioren, die zwar kein Slackline-, aber ein Gleichgewichtstraining auf instabilen Geräten absolviert haben, hat sich beispielsweise auch die Kraft verbessert.
Es muss also nicht unbedingt Slacklinen sein?
Natürlich nicht. Auch jemand, der zweimal die Woche im Wald joggen geht, macht automatisch ein Gleichgewichtstraining. Er muss sich dabei auf unebenen Wegen stabilisieren und mit Hindernissen umgehen. Das führt dazu, dass sein Sturzrisiko sinkt. Krafttraining kann das ebenfalls bewirken: Die Muskulatur wird in die Lage versetzt, schneller Kraft zu erzeugen. Ganz allgemein lässt sich schon sagen: Wer seine körperliche Fitness in irgendeiner Form verbessert, senkt damit auch sein Sturzrisiko.
Wie ist »Slacklinen« entstanden?
Der Begriff Slackline kommt aus dem Englischen und bedeutet »lockere Leine«. Der Sport entwickelte sich im »Camp 4«, einem Campingplatz im Yosemite-Nationalpark in Kalifornien. Dort begannen Freikletterer bereits in den 1960er Jahren, zum Zeitvertreib auf Absperrketten zu balancieren. In den 1980er Jahren kamen die Kletterer Adam Grosowsky und Jeff Ellington auf die Idee, ihr Klettermaterial dafür zu benutzen. Mit Hilfe eines selbst entwickelten Flaschenzugs, des so genannten »Ellington«, spannten sie ein Band zwischen zwei Bäumen und balancierten darauf. Zur Jahrtausendwende kam der Trendsport auch in anderen Ländern und Regionen an.
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