Die fabelhafte Welt der Mathematik: Auf der Suche nach der langweiligsten Zahl der Welt
Was ist Ihre Lieblingszahl? Viele haben da vielleicht eine irrationale Zahl im Kopf, wie die Kreiszahl π, die eulersche Zahl e oder die Wurzel aus zwei. Aber auch unter den natürlichen Zahlen finden sich Werte, denen man in verschiedensten Kontexten begegnet: die 7 Zwerge, die 7 Todsünden, die 13 als Unglückszahl – oder auch die 42, die sich spätestens seit dem Roman »Per Anhalter durch die Galaxis« von Douglas Adams großer Beliebtheit erfreut.
Wie sieht es dagegen mit einem größeren Wert wie 1729 aus? Die Zahl kommt den meisten sicherlich nicht besonders spannend vor. Auf den ersten Blick ist sie geradezu langweilig. Schließlich handelt es sich weder um eine Primzahl noch um eine Zweierpotenz oder eine Quadratzahl, ebenso folgen die Ziffern keinem offensichtlichen Muster. Das dachte sich auch der Mathematiker Godfrey Harold Hardy (1877–1947), als er in ein Taxi mit der Nummer 1729 einstieg. Damals besuchte er seinen erkrankten Kollegen Srinivasa Ramanujan (1887–1920) im Krankenhaus und erzählte ihm von der »langweiligen« Taxinummer. Er hoffte, das sei kein schlechtes Omen. Ramanujan widersprach seinem Freund sofort: »Es ist eine sehr interessante Zahl; es ist die kleinste Zahl, die sich auf zwei verschiedene Arten als Summe zweier Kubikzahlen ausdrücken lässt.«
Nun kann man sich fragen, ob es überhaupt eine Zahl geben kann, die nicht interessant ist. Denn die Überlegung führt schnell in ein Paradox: Falls es tatsächlich einen Wert n geben sollte, der keine spannenden Eigenschaften hat, dann macht ihn genau diese Tatsache zu etwas Besonderem. Doch es gibt tatsächlich eine Möglichkeit, die interessanten Eigenschaften einer Zahl auf recht objektive Weise zu bestimmen – und zur großen Überraschung stellte sich 2009 heraus, dass sich die natürlichen Zahlen in zwei scharf abgegrenzte Lager aufteilen: in spannende und langweilige Werte.
Ein Katalog aller Zahlenfolgen
Eine Möglichkeit für solche Untersuchungen bietet eine umfassende Enzyklopädie von Zahlenfolgen. Die Idee für ein solches Sammelwerk hatte der Mathematiker Neil Sloane 1963, als er seine Doktorarbeit schrieb. Damals musste er die Größe bestimmter Graphen berechnen und stieß dabei auf eine Zahlenfolge: 0, 1, 8, 78, 944, … Damals wusste er noch nicht, wie sich die Folgenglieder exakt berechnen lassen, und hätte gerne gewusst, ob seine Kollegen während ihrer Forschung bereits auf eine ähnliche Folge gestoßen waren. Doch anders als bei Logarithmen oder Formeln gab es kein Register für Zahlenfolgen. Und so veröffentlichte Sloane zehn Jahre später seine erste Enzyklopädie, »Handbook of Integer Sequences« mit 2400 Folgen. Das Buch traf auf Zustimmung: »Es gibt das Alte Testament, das Neue Testament und das ›Handbook of Integer Sequences‹«, schrieb ein begeisterter Leser.
In den folgenden Jahren erreichten Sloane zahlreiche Einsendungen mit weiteren Sequenzen und es erschienen auch wissenschaftliche Arbeiten mit neuen Zahlenfolgen. Das veranlasste den Mathematiker, gemeinsam mit seinem Kollegen Simon Plouffe 1995 die »Encyclopedia of Integer Sequences« herauszubringen, die bereits etwa 5500 Folgen enthielt. Die Inhalte wuchsen unaufhörlich weiter, und das Zeitalter des Internets ermöglichte es, die Datenflut zu beherrschen: 1996 erschien die Online-Enzyklopädie oeis.org, die keine räumlichen Beschränkungen mehr besitzt: Mit Stand Februar 2023 enthält sie etwas mehr als 360 000 Einträge. Einsendungen kann jeder tätigen: Man sollte nur erklären, wie sich die Folge erzeugen lässt, warum sie interessant ist, sowie die ersten Glieder angeben. Gutachter prüfen dann den Beitrag und veröffentlichen ihn, wenn er die Kriterien erfüllt.
Neben bekannten Folgen wie den Primzahlen (2, 3, 5, 7, 11, …), Zweierpotenzen (2, 4, 8, 16, 32, …) oder der Fibonacci-Folge (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, …) finden sich im OEIS-Katalog auch exotische Beispiele wie: 1, 24, 1560, 119580, 10166403, … (Anzahl der Möglichkeiten, einen stabilen Turm aus n Lego-Klötzen der Größe 2 x 4 zu bauen) oder die »Zahlenfolge des faulen Kellners«: 1, 2, 4, 7, 11, 16, 22, 29, … (die maximale Anzahl von Tortenstücken, die sich durch n Schnitte erreichen lässt).
Da etwa 130 Personen die eingesendeten Zahlenfolgen begutachten, die Liste seit mehreren Jahrzehnten existiert und in der mathematikaffinen Community recht bekannt ist, sollte die Sammlung eine objektive Auswahl aller Folgen enthalten. Somit eignet sich der OEIS-Katalog, um die Beliebtheit von Zahlen zu untersuchen: Je häufiger eine Zahl in der Liste auftaucht, desto interessanter ist sie demnach.
Auf der Jagd nach der langweiligsten Zahl
Diesen Gedanken jedenfalls hatte Philippe Guglielmetti, der den französischsprachigen Blog »Dr. Goulu« betreibt. Guglielmetti erinnerte sich an einen Ausspruch seines ehemaligen Mathematiklehrers, der behauptet hatte, 1548 sei eine beliebige Zahl ohne besondere Eigenschaft. Tatsächlich taucht sie 326-mal im OEIS-Katalog auf: zum Beispiel als »mögliche Periode einer einzelnen Zelle in einem zellulären Automaten der Regel 110 in einem zyklischen Universum der Breite n«. Auch Hardy hatte sich getäuscht, als er die Taxinummer 1729 als langweilig betitelte: Sie erscheint 918-mal in der Datenbank (und auch häufig bei der beliebten TV-Serie »Futurama«).
Also begab sich Guglielmetti auf die Suche nach wirklich langweiligen Zahlen: solchen, die kaum oder gar nicht im OEIS-Katalog auftauchen. Letzteres ist beispielsweise bei 20 067 der Fall (Stand Februar 2023). Sie ist die kleinste Zahl, die in keiner der vielen gespeicherten Zahlenfolgen auftaucht. Allerdings nur, weil die Datenbank lediglich die ersten 180 Ziffern einer Zahlenfolge speichert – sonst würde jede Zahl mindestens in der Folge A000027 auftauchen: der Liste der ganzen Zahlen. Der Wert 20 067 scheint also recht langweilig. Zur darauf folgenden Zahl 20 068 gibt es beispielsweise sieben Einträge. Doch das kann sich ändern. Vielleicht erscheint schon während des Schreibens dieses Artikels eine neue Folge, in der 20 067 in den ersten Folgengliedern auftaucht. Dennoch eignet sich die Anzahl N(n) der OEIS-Einträge für eine bestimmte Zahl n als Maß dafür, wie interessant n ist.
Guglielmetti ließ sich daher die Anzahl aller Einträge der Reihe nach für die natürlichen Zahlen ausgeben und stellte das Ergebnis grafisch dar. Er fand eine Punktwolke in Form einer breit gefächerten Kurve, die zu großen Werten hin abfällt. Das ist insoweit nicht überraschend, als bloß die ersten Glieder einer Folge im OEIS-Katalog gespeichert werden. Was aber erstaunlich ist: Die Kurve besteht aus zwei Bändern, die durch eine deutlich erkennbare Lücke voneinander getrennt sind. Eine natürliche Zahl taucht also entweder besonders häufig oder extrem selten in der OEIS-Datenbank auf.
Fasziniert von diesem Ergebnis wandte sich Guglielmetti an den Mathematiker Jean-Paul Delahaye, der regelmäßig für das Magazin »Pour la Science« populärwissenschaftliche Artikel verfasst. Er wollte wissen, ob Fachleute dieses Phänomen schon untersucht hatten. Da das nicht der Fall war, griff Delahaye das Thema mit seinen Kollegen Nicolas Gauvrit und Hector Zenil auf und untersuchte es genauer. Sie nutzten dafür Ergebnisse aus der algorithmischen Informationstheorie. Diese bemisst die Komplexität eines Ausdrucks durch die Länge des kürzesten Algorithmus, der den Ausdruck beschreibt. So ist etwa eine willkürliche fünfstellige Zahl wie 47 934 schwieriger zu beschreiben (die Folge der Ziffern 4, 7, 9, 3, 4) als 16 384 (214). Gemäß eines Theorems aus der Informationstheorie haben Zahlen mit vielen Eigenschaften meist auch eine niedrige Komplexität. Das heißt: Die Werte, die häufig im OEIS-Katalog auftauchen, sind höchstwahrscheinlich einfach zu beschreiben. Delahaye, Gauvrit und Zenil konnten zeigen, dass die Informationstheorie einen ähnlichen Verlauf für die Komplexität von natürlichen Zahlen vorhersagt, wie er sich in Guglielmettis Kurve darstellt. Doch die klaffende Lücke, »Sloane's Gap«, lässt sich damit nicht erklären.
Wodurch entsteht die Unterscheidung zwischen spannenden und langweiligen Zahlen?
Die drei Mathematiker vermuteten, dass die Lücke durch gesellschaftliche Faktoren entsteht, etwa eine Präferenz für bestimmte Zahlen. Um das zu untermauern, haben sie eine so genannte Monte-Carlo-Simulation durchgeführt: Sie entwarfen eine Funktion, die natürliche Zahlen auf natürliche Zahlen abbildet – und zwar so, dass kleine Zahlen häufiger ausgegeben werden als größere. Die Forscher setzten Zufallswerte in die Funktion ein und stellten die Ergebnisse ihrer Häufigkeit nach grafisch dar. Dadurch ergab sich eine verschwommene, abfallende Kurve, ähnlich wie bei den Daten des OEIS-Katalogs. Doch genau wie bei der informationstheoretischen Analyse ist auch hier keine Spur einer Lücke zu sehen.
Um besser zu verstehen, wie die Lücke entsteht, muss man sich ansehen, welche Zahlen in welches Band fallen. Für kleine Werte bis etwa 300 ist »Sloane's Gap« nicht sehr ausgeprägt. Erst bei größeren Zahlen klafft die Lücke deutlich auf: Etwa 18 Prozent aller Zahlen zwischen 300 und 10 000 sind im »interessanten« Band, während die restlichen 82 Prozent zu den »langweiligen« Werten gehören. Wie sich herausstellt, befinden sich etwa 95,2 Prozent aller Quadratzahlen im interessanten Band; 99,7 Prozent der Primzahlen sowie 39 Prozent der Zahlen mit vielen Primfaktoren. Diese drei Klassen machen bereits knapp 88 Prozent des interessanten Bands aus. Die restlichen Werte haben auffällige Eigenschaften wie 1111 oder die Form 2n + 1 beziehungsweise 2n − 1.
Gemäß der Informationstheorie sollten jene Zahlen besonders interessant sein, die eine geringe Komplexität haben, sich also leicht ausdrücken lassen. Wenn Mathematiker aber gewisse Werte als spannender erachten als andere gleicher Komplexität, kann das zu »Sloane's Gap« führen, wie Delahaye, Gauvrit und Zenil argumentieren. Zum Beispiel: 2n + 1 und 2n + 2 sind aus informationstheoretischer Sicht gleich komplex – doch nur Werte der ersten Form befinden sich im »interessanten Band«. Denn durch solche Zahlen lassen sich Primzahlen untersuchen, weshalb sie in vielen verschiedenen Kontexten auftauchen.
Die Aufspaltung in interessante und langweilige Zahlen scheint also einem gesellschaftlichen Interesse zu entspringen – etwa der Bedeutung, die wir Primzahlen beimessen. Wenn Sie bei der Frage nach Ihrer Lieblingszahl also eine wirklich kreative Antwort geben wollen, könnten Sie eine Zahl wie 20 067 nennen, die noch keinen Eintrag in Sloane's Enzyklopädie hat.
Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!
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