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Corona-Impfstrategie: Die Dosis zu verzögern, bedeutet impfen im Blindflug

Die zweite Impfung später geben, um mehr Menschen in kürzerer Zeit zu schützen? Klingt verlockend. Doch mangels Daten ist der Nutzen unklar, zumal es große Risiken gibt, kommentiert Lars Fischer.
Eine Studie aus Island war die erste, die qualitativ hochwertige Belege dafür lieferte, dass Covid-19-Infektionen häufig asymptomatisch verlaufen.

Pure Verzweiflung treibt die Behörden in Großbritannien zum Impf-Blindflug – man will die zweite Impfung ab sofort nicht wie bislang vorgesehen nach drei Wochen, sondern später geben. Das Ziel: schneller mehr Menschen vor dem Coronavirus schützen, zumindest ansatzweise. Deutschlands Bundesgesundheitsminister Jens Spahn lässt nun prüfen, ob das auch für Deutschland eine Option ist. Die Ständige Impfkommission (STIKO) solle berichten, welche wissenschaftlichen Daten dafür sprächen. Fest steht: Es ist ein riskanter Plan.

Großbritannien ist zur unwägbaren Abwägung gezwungen. Die britische Regierung hat den Beschluss gefasst, weil ihr Land auf eine Katastrophe zusteuert. Die Fallzahlen dort steigen schneller als jemals zuvor. Das liegt vermutlich an der neuen, womöglich ansteckenderen Virusvariante B.1.1.7, die sich in Großbritannien stark verbreitet. Jedenfalls drohen die rasant zunehmenden Erkrankungen das ohnehin am Anschlag arbeitende Gesundheitssystem endgültig zu überwältigen. Das Szenario könnte sich, fürchten Fachleute, zeitversetzt auch in Deutschland abspielen.

Hinter der Strategie der verzögerten zweiten Impfung steckt ein einfacher, sinnvoller Gedanke: Angesichts von immer mehr Kranken und dem relativ knappen Impfstoff gilt es, so viele Menschen wie möglich zumindest teilweise zu immunisieren, um die Verbreitung des Virus zu bremsen. Damit begibt man sich allerdings auf unkartiertes Gelände.

Bisherige Daten zur Impfung decken den Minimalstandard ab

Indizien sprechen zwar dafür, dass der größere Abstand zwischen den beiden Impfdosen keine Auswirkungen auf den tatsächlichen Impfschutz haben. Doch die Mittel sind keineswegs vollständig geprüft, die in den klinischen Tests erhobenen Daten decken den Minimalstandard für eine Notfallzulassung ab. Vom getesteten Protokoll abzuweichen, verringert die Aussagekraft der Ergebnisse.

Deswegen ist auch die weithin zitierte, auf dünner Datenbasis gegründete Vermutung, schon die erste Impfdosis erzeuge einen guten Schutz vor einer Infektion, mit einiger Vorsicht zu genießen. Wie gut dieser Schutz tatsächlich ist – zumal bei älteren Menschen, deren Immunsystem allgemein schwächer reagiert – und wie lange er anhält, ist schlicht unbekannt.

Einige Fachleute sehen ein weiteres Risiko, das den Erfolg der Impfungen weltweit gefährdet. So könnte die britische Strategie dazu führen, dass mehr Virenlinien entstehen, gegen die aktuelle Impfstoffe nicht mehr wirken. Das kann passieren, wenn zu wenig Antikörper vorhanden sind, um die Infektion zu stoppen, aber genug, um resistente Viruslinien zu begünstigen – wie bei einer zu schwachen Immunreaktion auf eine Impfung.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich das ist, weiß niemand. Die Konsequenzen einer solchen Entwicklung wären jedoch gravierend. Nicht zuletzt ist möglicherweise ein ganz ähnlicher Effekt überhaupt erst für die missliche Lage Großbritanniens verantwortlich: Die Virusvariante B.1.1.7 ist wohl durch die zu schwache Immunreaktion bei einem immunschwachen Patienten entstanden.

Ebenso unbekannt ist, ob die neue Impfstrategie den gewünschten Effekt hat – also ob die Zahl der dank verzögerter zweiter Dosis zusätzlich geimpften Menschen die Verbreitung des Virus nennenswert einschränkt. Nicht zuletzt könnte eine schwächere Wirkung der ersten Impfdosis den durch mehr Geimpfte gewonnenen Vorteil größtenteils wieder aufwiegen.

Abwägungen voller Unbekannten

Es gibt in der aktuellen Krise gute Argumente für ungewöhnliche Ansätze. Allerdings sind die Gefahren ebenso real. Bei all der Ungewissheit lässt sich derzeit nicht sagen, ob jetzt diejenigen »Recht haben«, die vor den Risiken warnen, oder diejenigen, die angesichts der rasant steigenden Infektionszahlen möglichst viele Impfungen in möglichst kurzer Zeit für entscheidend halten. Die selbstbewussten Proklamationen dieser oder jener Protagonisten der Debatte, die meinen, alles schon ganz genau zu wissen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich derzeit nur spekulieren lässt.

Ohne sichere Daten fehlt die Grundlage, um vernünftig abzuwägen: Wie groß muss der Vorteil durch die zusätzlichen Impfungen sein, um das Risiko einer Fluchtmutante zu rechtfertigen? Und ist dieser Vorteil tatsächlich groß genug? Und welche weiteren Probleme handelt man sich dadurch ein? Niemand weiß es.

Angesichts der Situation im Vereinigten Königreich ist die geänderte Impf-Strategie nachvollziehbar – aber Blindflug bleibt Blindflug. Damit ist offensichtlich, welches Vorgehen in Deutschland die richtige ist: eindämmen und die Infektionszahlen niedrig halten, um es gar nicht erst zu einer Situation wie in Großbritannien kommen zu lassen. In der Hoffnung, dass es dafür nicht schon zu spät ist.

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