In Bestform: Sollte man sich vor dem Sport dehnen?
Die einen schwören auf ein ausgiebiges Stretching vor dem Sport, die anderen dehnen sich danach. Und wieder andere sagen, das Strecken würde ihnen nicht guttun. Was bringt Dehnen wirklich, und wie macht man es richtig? Der Ulmer Sportphysiotherapeut Christian Münzing weiß Rat.
»Spektrum.de:« Herr Münzing, sollte man sich vor dem Sport dehnen?
Christian Münzing: Es gibt kaum etwas, was so heftig umstritten ist wie dieses Thema. Zunächst möchte ich sagen: Das ist eine sehr individuelle Sache. Jeder Körper ist anders und braucht anderes. Ein Leistungssportler beispielsweise sollte seine Muskulatur schon etwas vorbereiten. Aber man sollte das mit einer eher geringen Intensität machen. Denn: Zu viel Stretching kann die Kraftentfaltung im Muskel verringern. Studien belegen beispielsweise, dass die Wadenmuskulatur, wenn man sie vor einer Belastung zu intensiv dehnt, bis zu 15 Prozent weniger leistungsfähig ist. Das ist gar nicht mal so wenig.
Wie kann man das vermeiden? Lieber gar nicht vorher dehnen?
Doch, das ist unter Umständen schon sinnvoll. Aber man sollte die einzelnen Positionen nie lange halten. Besser sind immer Dinge mit Bewegung, so genannte kinetische Dehnübungen.
Wie geht das?
Bleiben wir mal bei der Wade. Wenn man eine Schrittposition einnimmt, in der man das hintere Bein durchstreckt und die Ferse in den Boden drückt, wird die Wadenmuskulatur gedehnt. Das einfach nur zu halten, also statisch zu dehnen, würde ich vor dem Sport nicht empfehlen. Man sollte eine dynamische Komponente hineinbringen, zum Beispiel in die Kniebeuge und wieder hoch gehen. Die Ferse muss dabei am Boden bleiben; das gesamte Gewicht liegt auf dem vorderen Bein.
Was bewirkt das?
Es sorgt für ein dynamisches Wechselspiel zwischen äußerer und innerer Unterschenkelmuskulatur und betrifft nicht nur die Muskeln, sondern auch das Fasziensystem, also die Hüllen um die Muskeln herum. Wie wichtig die sind, weiß man erst seit 15 bis 20 Jahren. Wenn diese Strukturen elastisch und gut vorbereitet sind, kann sich der Muskel in dieser Hülle besser entfalten.
Von Sportler zu Sportlern
»Mein oberstes Ziel beim Sport ist, Spaß zu haben. Wenn man damit nicht gerade sein Geld verdient, sollte man es tunlichst vermeiden, sich damit Stress zu bereiten. Davon haben wir im Alltag genug. Ich bin phasenweise sehr viel gelaufen. Irgendwann hatte ich darauf einfach keine Lust mehr – so bin ich zum Schwimmen gekommen. Das ist für mich ein super Ausgleichstraining. Ich finde meinen Rhythmus und denke oft ›Ups, da ist ja schon wieder der Beckenrand‹. Mit Spaß geht einfach alles leichter. Und wenn man in seinen Körper reinhört, kann man eigentlich gar nicht so viel falsch machen.« (Christian Münzing)
Und wie lange sollte man das machen?
Obwohl ich meinen Job schon seit etwa 30 Jahren mache, habe ich darauf noch keine zufrieden stellende Antwort gefunden. Ich scheue mich, eine genaue Dauer oder Wiederholungszahl anzugeben. Der Mensch ist einfach zu individuell. Ich appelliere immer an meine Sportler, in sich hineinzuhören: Geben die Strukturen nach, wenn man eine bestimmte Position einnimmt? Wenn nicht, sollte man mehr mit Bewegung arbeiten. Wenn es damit nicht weiter geht, kann man versuchen, über ein statisches Halten mehr Lockerung der Muskelfilamente zu erreichen. Statisches Dehnen kommt eher in der Muskulatur an, dynamisches in den Faszien. Diese beiden Einheiten sind untrennbar miteinander verbunden. Deshalb sollte man immer beide adressieren. Und zwar so lange, bis man eine Position nicht mehr sauber halten kann oder einfach das Gefühl hat: Jetzt reicht's.
Kann Stretching das Verletzungsrisiko verringern?
Definitiv. Vor allem dann, wenn die Übungen dazu führen, dass der Körper symmetrischer wird. Kein Mensch ist ja wirklich symmetrisch. Man kann das eine Bein vielleicht um 120 Grad zur Hüfte hin beugen, das andere nur um 100. Das kann daran liegen, dass der Hüftstrecker auf einer Seite verkürzt ist. Daran würde ich arbeiten. Denn nur ein symmetrischer Körper kann auch symmetrisch belastet werden. Und das verringert das Verletzungsrisiko.
Also muss ich mit meinem linken Bein dann beispielsweise künftig etwas mehr arbeiten als mit dem rechten.
Genau. Ich würde das aber gar nicht unbedingt direkt vor dem Training machen, sondern währenddessen, danach oder auch im Alltag. Nach dem Sport, wenn der Muskel noch warm ist, gibt er vielleicht etwas leichter nach, und ich kann die Strukturen besser bearbeiten.
Fördert Dehnen nach dem Sport denn die Regeneration des Muskels oder beugt gar Muskelkater vor?
Ein klares Nein. Im Rahmen des Projekts REGman, kurz für Regenerationsmanagement im Sport, haben Sportmediziner beweisen, dass Stretching nach dem Sport die Regeneration nicht fördert.
Und was ist, wenn man schon Muskelkater hat?
Sich mit einem akuten Muskelkater zu dehnen, empfehle ich nicht. Der Körper ist dann ja gerade dabei, die feinen Risse im Muskel zu reparieren. Wenn ich zu stark dehne, reiße ich sie wieder auf, sprich: Die Regenerationszeit verlängert sich, das wurde auch durch die REGman-Studien bewiesen. Ist der Muskelkater bereits abgeklungen, kann Dehnen der Muskulatur aber helfen, an Elastizität zurückzugewinnen.
Darf Dehnen weh tun? Oder ist es dann schon zu viel?
Eine gewisse Schmerzempfindung ist normal – man zieht ja an den Strukturen. Die Faustregel ist, es sollte noch ein angenehmer Schmerz sein. Das heißt: Man merkt, es zieht, aber es ist nicht unangenehm, sondern tut eher gut. Auch das ist natürlich individuell verschieden. Überschreitet man diese Grenze, etwa weil jemand sagt: »Du musst da mehr rein«, dann meldet der Muskel ans Gehirn: »Das ist zu viel, ich gehe gleich kaputt.« Das Gehirn meldet zurück: »Okay, du darfst nachher gleich wieder fest werden.« Das Resultat: Der Effekt ist dahin, die Dehnung war für die Katz.
Dehnen: Stress für die Nerven?
Wenn häufiges Dehnen nicht beweglicher macht, kann das verschiedene Ursachen haben. Eine mögliche Erklärung: Nicht Muskeln oder Faszien schränken die Beweglichkeit ein, sondern das Nervensystem. Einen Nerv kann man nur geringfügig dehnen. Tut man es dennoch, so werden die Blutgefäße, die ihn versorgen, ebenfalls gedehnt. Die Folge: Es kommt weniger Blut – und damit auch weniger Sauerstoff – im Nerv an. Das bedeutet Stress. Das zentrale Nervensystem signalisiert dem Muskel deshalb: Mach dich fest. Die Menschen spüren dann zwar eine Dehnung, die oft schon unangenehm ist, der Muskel wird dadurch aber nicht lockerer. In so einem Fall sollte man nicht statisch, sondern dynamisch dehnen, um die Blutversorgung nicht zu unterbrechen.
Wann sollte man das Dehnen unbedingt sein lassen?
Ein verletzter Muskel sollte in der akuten Phase auf keinen Fall gedehnt werden. Wenn man zum Beispiel eine Zerrung oder einen Muskelfaserriss hat, sollte man das die ersten fünf bis acht Tage unbedingt sein lassen. Alles Weitere hängt vom genauen Ort und der Art der Verletzung und auch von den Lebensgewohnheiten der Person ab. Wenn jemand total sportlich ist und gesund lebt, heilt das in der Regel schneller als bei jemandem, der den ganzen Tag sitzt.
Welche Dehnübung können Sie denn generell empfehlen?
Eigentlich allen Menschen, aber besonders denen, die viel sitzen, empfehle ich die Drehdehnlage. Das macht man auf der Seite liegend. Das obere Bein ist im 90-Grad-Winkel nach vorn abgelegt, der Arm liegt hinter dem Körper und man bringt den Rumpf in eine Rotation. Sowohl das vordere Knie als auch die Schultern sollten dabei auf dem Boden bleiben. Bei den meisten Menschen kommt es so zu einer Dehnung im Brust- und Armbereich, manche spüren es auch in der oberen Hüfte. Das kann man schon mal so ein bis zwei Minuten halten. Das Schöne an dieser Position ist, dass die Rotation an eine Streckung der Wirbelsäule gekoppelt ist. Hier liegt eine unserer größten Problemzonen. Durch das Sitzen verkürzt sich die Rumpfmuskulatur, und wir sind gar nicht mehr in der Lage, uns richtig aufzurichten. Das wiederum hat großen Einfluss auf die Qualität unserer Bewegung und die Belastungsfähigkeit unseres Körpers.
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