Mäders Moralfragen: Sollten besser Experten regieren?
Als Justin Trudeau sein Kabinett vorstellte, waren viele begeistert. Das »vermutlich coolste Kabinett der Welt«, titelte »Spiegel Online«. Zur Hälfte weiblich, mit mehreren Vertretern aus Minderheiten. Ein Kabinett, »das wie Kanada aussehe«, sagte Trudeau damals. Und noch etwas faszinierte die Menschen: Trudeau hatte sich Fachleute geholt. Er machte einen Soldaten zum Verteidigungsminister, eine Ärztin zur Gesundheitsministerin, eine Forscherin zur Forschungsministerin, einen Astronauten zum Verkehrsminister, einen reichen Businessmann zum Finanzminister und eine paralympische Schwimmerin zur Sportministerin. Unter dem Titel »Oh, Canada! What a cabinet!« liefen ab November 2015 Fotos des Kabinetts durch die sozialen Netzwerke und hielten sich dort lange. Sie wurden noch gepostet, als der eine oder andere Minister schon nicht mehr im Amt war.
Eine Regierung aus Experten ist für viele Menschen attraktiv. Die European Values Study, die alle zehn Jahre viele tausend Europäer unter anderem zu ihren politischen Ansichten befragt, hat das gerade wieder gezeigt. Vergangene Woche wurden die vorläufigen Ergebnisse der Umfragen aus den Jahren 2017 und 2018 veröffentlicht. Demnach fände es eine Mehrheit der Europäer ziemlich gut oder sogar sehr gut, wenn Experten entscheiden würden, was das Beste für das jeweilige Land ist. In Deutschland sind es rund 40 Prozent. Auch wenn diese Zahlen noch vorläufig sind, ist hier zu Lande ein deutlicher Meinungsumschwung zu erkennen. Denn vor zehn Jahren waren noch rund 60 Prozent der Deutschen für eine Expertenregierung, wie man im Online-Atlas der European Values Study nachsehen kann.
Wo der Schuh noch drückt
Den Meinungsumschwung muss man nicht als aufkommendes Misstrauen in die Wissenschaft interpretieren. Er kann ebenso gut die Einsicht widerspiegeln, dass die Hoffnungen auf eine Expertenregierung übertrieben sind. Bei politischen Entscheidungen ist es natürlich nicht verkehrt, etwas von der Sache zu verstehen. Doch entscheidend ist, dass man Kompromisse aushandeln und Mehrheiten organisieren kann. Eine demokratische Entscheidung ist nur dann tragfähig, wenn die Bürger den Eindruck haben, dass sie gehört wurden und sich in die Entscheidungen einbringen konnten. Der Philosoph John Dewey hat diesen Punkt vor 100 Jahren in einer Analogie verdeutlicht: Der Schuster weiß als Experte, wie man gute Schuhe herstellt. Doch richtig gut ist ein Schuh erst, wenn er passt. Und dazu braucht der Schuster die Auskunft des Kunden, denn nur der kann sagen, wo der Schuh noch drückt.
Die Analogie hakt leider ein wenig, denn der Schuster könnte den Schuh mit Sensoren ausstatten oder den Fuß im Schuh röntgen, um selbst festzustellen, ob alles passt. Doch es ist klar, was Dewey meint: Was die Bürger von ihren Politikern wollen, darf man ihnen nicht in den Mund legen. Die Bürger müssen ihren politischen Willen selbst äußern. Die Politiker wiederum müssen diesen Willen aufgreifen und ihn – nach einem komplizierten Prozess des Aushandelns, der die Interessen aller Bürger berücksichtigt – möglichst gut umsetzen.
Auch die Philosophin Cristina Lafont hält den Auftrag an Experten, die richtigen Entscheidungen für das Land zu treffen, für eine unzulässige Abkürzung des politischen Prozesses. Lafont hat bei Jürgen Habermas promoviert und ist heute Professorin an der Northwestern University in den USA. Sie hat kürzlich in Stuttgart die Thesen ihres neuen Buchs vorgestellt, das in einigen Monaten erscheinen soll. Darin will sie zeigen, dass es keine Alternative zum zähen demokratischen Ringen gibt – zumindest nicht, wenn man den Populisten etwas entgegensetzen möchte. »Man kann sich sein Volk nicht aussuchen«, sagte Lafont und unterstrich damit ihr wichtigstes Kriterium: In einer Demokratie sollte sich niemand ausgeschlossen fühlen. Wenn Populisten den Anspruch erheben, »das Volk« zu vertreten, tun sie genau das: Sie schließen Menschen aus, die aus ihrer Sicht nicht zum Volk gehören.
Wie man Populisten (nicht) bekämpft
Cristina Lafont ist gegen eine Expertenregierung, weil auch sie Menschen ausschließen würde. Dieser Punkt ist nicht leicht einzusehen, denn was wäre dagegen einzuwenden, wenn die Bürger die Entscheidungsgewalt in einer freien Abstimmung und mit großer Mehrheit an eine Expertenregierung abgeben, weil sie auf bessere politische Beschlüsse hoffen? Lafonts Antwort: Diese Experten wären zwar zu Beginn demokratisch legitimiert, doch das würde nicht lange gut gehen. Irgendwann werden die Experten eine Entscheidung treffen, die sich später als falsch herausstellt oder die einfach unpopulär ist. Was geschieht dann? Im besten Fall arbeiten sich die Bürger selbst in das Thema ein und erklären den Experten, wie sie es gerne hätten. In jedem Fall werden sie die Entscheidung der Experten aber nicht als ihre auffassen, sondern als eine, auf die sie keinen Einfluss hatten. Mit anderen Worten: Sie werden sich ausgeschlossen fühlen und behaupten, die Expertenregierung habe den Kontakt zu den Bürgern verloren – und damit letztlich auch ihre Legitimation.
Der beste Weg, um wissenschaftliche Expertise in die politische Debatte zu bringen, ist ein anderer: Man muss die Bürger informieren. Nicht nur, damit sie die politischen Entscheidungen der Regierung nachvollziehen können, sondern damit sie diese mitgestalten. Wenn eine Entscheidung ansteht, muss man zumindest einen Teil der Bürger zu Experten machen, denen die anderen in dieser Angelegenheit vertrauen. »Wenn man die Menschen unwissend lässt«, sagt Lafont, »schließt man Verbesserungen der politischen Willensbildung dauerhaft aus.« Und ihre Empfehlung im Kampf gegen den Populismus? »Populisten sind populär, weil das politische System nicht auf die Bürger zu hören scheint. Das kann man nicht ändern, indem man den demokratischen Prozess weiter abkürzt.« Experten an der Macht unterscheiden sich aus Lafonts Sicht gar nicht so sehr von Populisten: Sie mögen mehr Verstand besitzen, aber es gibt keine Garantie, dass die Experten den Willen aller Bürger respektieren und den bestmöglichen Kompromiss suchen.
Die Moral von der Geschichte: Das zähe Ringen um Kompromisse gehört leider zur Demokratie dazu.
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