Freistetters Formelwelt: Sollten wir Radioaktivität fürchten oder schätzen?
Als Astronom habe ich das große Glück, auf einem Gebiet zu arbeiten, das der überwiegende Teil der Öffentlichkeit höchst faszinierend findet: ferne Galaxien, die Planeten anderer Sterne, die Suche nach außerirdischem Leben, die Geheimnisse Schwarzer Löcher und Dunkler Materie: All das weckt die Aufmerksamkeit der Menschen, und nach öffentlichen Vorträgen bin ich immer wieder überrascht und erfreut über das positive Interesse, das die Leute dem Weltall entgegenbringen.
Das ist nicht selbstverständlich. Wenn ich im Rahmen meiner Arbeit über andere Themen spreche oder schreibe, können die Reaktionen auch völlig anders ausfallen – zum Beispiel wenn es um Radioaktivität geht. Es handelt sich dabei eigentlich um ein völlig natürliches Phänomen, das aber trotzdem so gut wie immer sofort mit großer Gefahr, tödlichen Atombomben und explodierenden Kernkraftwerken in Verbindung gebracht wird.
Dabei würde es sich sehr lohnen, diesen Reflex zu unterdrücken. Die Radioaktivität ist mindestens genauso beeindruckend, ja faszinierend wie die Sterne, Planeten und Galaxien im Weltall. Den Grund dafür findet man in folgender Formel:
Diese mathematische Gleichung beschreibt das, was die Radioaktivität ausmacht: den Zerfall chemischer Elemente. Hat man eine bestimmte Menge N0 eines radioaktiven Elements vorliegen, dann ist nach einer gewissen Zeit t ein Teil davon verschwunden und nur noch die Menge N(t) übrig. Wie schnell der Zerfall vor sich geht, wird durch die so genannte "Halbwertszeit t1/2" bestimmt – also die Zeit, in der genau die Hälfte des ursprünglichen Materials zerfallen ist.
Das Wort "zerfallen" beschreibt aber nur unzureichend, was hier eigentlich passiert: Ein chemisches Element verwandelt sich in ein anderes! Es lohnt sich, ein wenig darüber nachzudenken, wie spektakulär dieses Phänomen ist. Aus Uran wird Blei, aus Kohlenstoff wird Stickstoff, aus Kalium wird Kalzium und so weiter: Die scheinbar unveränderliche Welt der Elemente ist in Wahrheit viel dynamischer, als wir uns es vorstellen.
Die Alchemisten der Antike und des Mittelalters waren noch der Meinung, man müsste die chemischen Elemente nur auf die richtige Art und Weise miteinander mischen und reagieren lassen, um sie fast beliebig transformieren zu können. Ihr großes Ziel war die Herstellung von Gold aus weniger edlen Elementen. Dieses Ziel erreichten sie nie, schufen dabei aber die Grundlagen der modernen Chemie.
Erst Ende des 19. Jahrhunderts bemerkte der Physiker Antoine Henri Becquerel, dass das, was die Alchemisten künstlich herbeizuführen suchten, in der Natur schon immer ganz von selbst passierte. Er entdeckte die Radioaktivität und ging die ersten Schritte auf dem Weg der wissenschaftlichen Erforschung des Zerfalls und der Umwandlung chemischer Elemente.
Heute wissen wir, dass die Radioaktivität eine fundamentale Rolle im gesamten Universum spielt. Ohne sie würde die Kernfusion im Inneren der Sterne nicht so funktionieren, wie sie es tut, und die Sonne könnte nicht als Energiequelle für das Leben auf der Erde wirken. Ohne die von den radioaktiven Elementen im Inneren der Erde abgegebene Wärme wäre der Kern unseres Planeten schon ausgekühlt und nicht mehr in der Lage, das uns Menschen vor kosmischer Strahlung schützende planetare Magnetfeld zu erzeugen. Radioaktive Strahlung wird bei medizinischen Behandlungen genauso eingesetzt wie in der wissenschaftlichen Grundlagenforschung. Wir erforschen damit die Entwicklung des Erdklimas und messen das Alter archäologischer Funde. Wir bestimmen damit das Fließverhalten von Grundwasser im Boden und von Blut im menschlichen Körper.
Die radioaktive Transformation chemischer Elemente durchdringt das gesamte Universum ebenso fundamental wie zum Beispiel der Elektromagnetismus oder die Gravitation. Sie verdient unsere Faszination und Aufmerksamkeit und nicht die irrationalen Ängste, die uns den Blick auf das Wesentliche verstellen: die Tatsache, dass die Radioaktivität ein völlig natürliches Phänomen ist, ohne das die Welt nicht so wäre, wie sie ist. Ohne Radioaktivität würde es uns Menschen gar nicht geben.
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