Warkus‘ Welt: Warum Twitter kein Marktplatz ist
Wann waren Sie zum letzten Mal in der Öffentlichkeit? Die Frage lässt Sie möglicherweise etwas stutzen, weil sie unterschiedliche Interpretationen zulässt. Bin ich schon in der Öffentlichkeit, wenn ich die Wohnung oder das Haus verlasse? Oder erst, wenn ich unter Leute komme? Und reicht es dazu, zum Beispiel im Supermarkt zwischen vielen anderen Menschen herumzulaufen, mit denen ich kein Wort wechsle, oder muss es eine Art Austausch geben? Bin ich erst in der Öffentlichkeit, wenn ich etwas öffentlich mache, irgendeine Form von Beitrag veröffentliche? Und zählt es als ein solcher Beitrag, wenn ich beispielsweise in der Fußgängerzone auf eine Kiste steige und eine Rede halte, die alle ignorieren, oder muss es eine Diskussion geben?
Dass die europäische Philosophietradition ein besonderes Verhältnis zum Thema Öffentlichkeit hat, ist ein Gemeinplatz. Wer an antike Philosophie denkt, stellt sich heute zumeist Sokrates (469–399 v. Chr.) vor, der auf den Straßen und Plätzen Athens zu allen und mit allen spricht, die sich dafür interessieren. Wenn von der Agora, dem zentralen Platz der altgriechischen Stadt, die Rede ist, schwingt immer die Vorstellung mit, dass dort nicht nur Waren gehandelt und Handwerkertermine vereinbart wurden, sondern auch politische und philosophische Fragen auf den Tisch kamen. Öffentlichkeit ist – wenn wir uns diese Vorstellung zu eigen machen – ein zentraler Ort, an dem unterschiedliche Formen des Austauschs gebündelt sind.
Die Eingangsfrage hat Sie womöglich deshalb verunsichert, weil es in unserer Gesellschaft keinen verbindlichen zentralen Ort für alle Formen des Austauschs gibt. An der Stelle der Agora steht eine Unzahl von verschiedenen Orten, an denen unterschiedliche Austausche stattfinden – denken Sie etwa an eine öffentliche Vorlesung an einer Hochschule, eine Podiumsdiskussion im Rathaus, den monatlichen IT-Unternehmer-Stammtisch in der Cocktailkneipe oder eine Kundgebung von Fußballfans. Und neben den vielen differenzierten Formen des Sichtreffens in der »realen Welt« gibt es inzwischen bekanntlich noch zahlreiche andere Wege, sich auszutauschen – Post, Zeitung, E-Mail, Telefon, Kino, Rundfunk, Messaging, audiovisuelle Massenmedien wie Youtube und natürlich das, was wir soziale Medien nennen.
Es gibt also eine Geschichte der Öffentlichkeit und ihrer verschiedenen Formen, die verzahnt ist mit der Geschichte der Medien ebenso wie mit der Geschichte der Gesellschaften und der Staaten. Ein Thema für die Philosophie (und nicht bloß für die Politikwissenschaft, Soziologie oder Medienwissenschaft) ist diese Geschichte deswegen, weil seit dem Beginn des Nachdenkens darüber, wie sich Öffentlichkeit entwickelt und verändert, immer schon der Gedanke im Raum steht, dass auch unser Denken dadurch beeinflusst wird.
Der Austausch auf Twitter
So war auch der Aufstieg der sozialen Medien in den vergangenen 20 bis 30 Jahren sowohl mit Hoffnungen als auch mit Ängsten in Bezug auf die Zukunft der Öffentlichkeit verbunden. Diese konzentrieren sich aktuell in einem bizarren digitalen Großereignis, nämlich den Wirren nach der Übernahme von Twitter durch Elon Musk. Musk hat sich in öffentlichen Äußerungen dazu selbst direkt auf die große Erzählung der antiken Agora bezogen, indem er von Twitter als »town square« sprach. Er schreibt dem sozialen Netzwerk damit gewissermaßen die Funktion eines Ortes zu, an dem die Weltgesellschaft alle Arten des Austauschs bündelt wie seinerzeit die Stadt auf ihrem zentralen Platz – nur eben virtuell. Viele Befürchtungen dazu, was nach der Twitter-Übernahme oder gar nach dem Ende des Dienstes in der heutigen Form geschehen könnte, implizieren, dass Twitter diese Rolle als zentraler Ort der Öffentlichkeit bereits heute habe. Dabei wird immer wieder darauf abgehoben, dass Twitter im Gegensatz zu anderen sozialen Medien besonders direkten Austausch ermögliche.
Die Agora in Athen oder irgendeiner anderen antiken Stadt war kein Ort, an dem alle Menschen zu Wort kommen konnten, allein schon deshalb, weil die Gesellschaft selbst der demokratischsten Städte äußerst ungleich und hierarchisch organisiert war. Die freien Männer, die die Öffentlichkeit trugen, stellten gegenüber den Sklaven, Frauen und anderweitig Untergeordneten eine Minderheit dar. Und auch heute sind die realen und virtuellen Orte, an denen wir uns öffentlich austauschen, natürlich immer mit mehr oder minder hohen Schranken und Ungleichheiten versehen. Da die Geschichte der Menschheit seit der Neuzeit aber eine Geschichte von Befreiungsbewegungen ist, bedeutet, über Öffentlichkeit zu reden, auch immer, über diese Schranken zu reden. Dabei wird dieses Reden über Ausschlüsse und Ungleichheit selbst wieder strategisch eingesetzt, um Interessen durchzusetzen.
In den vergangenen Tagen und Wochen wurde viel darüber diskutiert, wer eigentlich auf Twitter aktiv ist, wer nicht und wie sich ändernde Regelungen und technische Möglichkeiten beeinflussen könnten, wer an der »globalen Konversation« dort eigentlich teilnimmt. Während Musk und seine Anhänger davon sprachen, durch bestimmte Regeländerungen eine »Befreiung« herbeizuführen, warnten andere davor, diese Änderungen könnten bestimmte Gruppen eher zum Schweigen bringen und von der Plattform vertreiben.
Wie auch immer man diese Vorgänge und insbesondere die Farce um Musks Herumbasteln am »Verifizierungssystem« Twitters deutet, eines ist an dieser modernen Form von Öffentlichkeit anders als an der Agora: Eine Privatfirma und im Extremfall eine Einzelperson kann ihr buchstäblich den Saft abdrehen. Wenn der Marktplatz abgesperrt wird, treffen sich die Bürger, die dort hinmöchten, an der Schranke wieder. Falls Twitter morgen abgeschaltet wird, ist es weg und ich verliere zu Personen, die ich nicht auf anderem Wege kenne, vollständig den Kontakt. Ob die moderne digitale Öffentlichkeit nun an sich so anders ist als die alte oder nicht: Dass ihr nacktes Bestehen so stark von der Laune einiger weniger reicher Männer abhängt, ist ein neues Phänomen, und die vergangenen Wochen haben der Welt dies ins Gedächtnis zurückgerufen.
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