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In Bestform: »Turnen war gewissermaßen politische Bildung«

Sportgeschichte hat immer auch mit Politik zu tun, sagt die Historikerin Jutta Braun vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam im Interview: »Im Kalten Krieg waren die Olympischen Spiele eine Bühne für Ost gegen West.«
Ein Gymnastikteam der britischen Armee im 19. Jahrhundert

Früher trieb man anders Sport als heute. Woran lag das? Wie hat sich der Sport im Lauf der Zeit verändert? Und welche Bedeutung haben die Olympischen Spiele heute? Einen Rückblick in die Sportgeschichte gibt die Historikerin Jutta Braun vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.

Frau Braun, früher war Bewegung obligatorisch. Man musste jagen und laufen, um zu überleben. Seit wann machten Menschen zum Vergnügen Sport?

Das lässt sich nicht eindeutig festlegen, es gibt viele Ursprünge. Schon im Mittelalter haben die Leute zum Vergnügen Ballspiele gemacht, und es gab Volksbräuche wie Tauziehen und Wettlauf. All das kann man als Vorläufer heutiger Sportarten betrachten. Die Wurzeln liegen in kulturellen Handlungen oder in kriegerischen Kulturen, wie dem Fechten beispielsweise.

Wie haben sich daraus die Sportarten entwickelt, die wir heute kennen?

Jutta Braun | Die Historikerin arbeitet am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam und ist Vorsitzende des Zentrums deutsche Sportgeschichte in Berlin.

Für den modernen Sport sind zwei Traditionslinien sehr wichtig. Zum einen das Turnen, das sich Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland verbreitete. In dieser Zeit lebte auch Turnvater Jahn, der vielen sicherlich ein Begriff ist. Das Turnen war mit einem politischen Bewusstsein verbunden, es war gewissermaßen politische Bildung. Man ertüchtigte sich für die nationale Sache, das bedeutete damals: zur Überwindung der Kleinstaaterei, gegen die Besetzung durch Napoleon. Zum anderen gab es Johann Christoph Friedrich GutsMuths, den Vater der Gymnastik. Er war rund 20 Jahre älter als Jahn, ebenfalls ein Pädagoge und nahm großen Einfluss auf das Schulturnen. Anders als Jahn, der politischer war, setzte er sich vor allem gegen den Verfall in der Gesellschaft ein.

Das bedeutet?

GutsMuths wollte, dass die Menschen ihren Körper achten und pflegen und nicht der Dekadenz nachgeben. Heute würde man vermutlich von »Achtsamkeit« sprechen.

Jahn und GutsMuths waren beide Deutsche. Gab es in anderen Ländern ähnliche Entwicklungen?

Ja, beispielsweise in Schweden. Auch dort hat sich im 19. Jahrhundert ein Gymnastik-Zweig entwickelt. Der Begründer hieß Pehr Henrik Ling. Er verfolgte ähnliche Ziele wie GutsMuths, legte aber besonders viel Wert auf Haltung und Atmung. Das geht stark in die Richtung von dem, was wir heute als Rückenschule oder Yoga bezeichnen würden.

Damals sprach man nicht von »Sport«, sondern vom »Turnen«. Worin besteht der Unterschied?

Sport hatte immer Wettkampfcharakter, es ging um Leistung, Konkurrenz. Das Turnen hingegen war darauf ausgerichtet, den eigenen Körper heranzubilden: Man machte Leibesübungen. Das Wort »Sport« stammt übrigens aus England. Dort war der aktive Sport lange eine eher elitäre Angelegenheit. Seit dem 18. Jahrhundert gab es Pferderennen, auch Golf und Tennis waren später beliebt. Das konnte sich nicht jeder leisten, und man musste die Zeit dafür haben. Der einfache Fabrikarbeiter konnte das nicht. Sport war also ein Vergnügen für die Oberschicht. Daher kommt auch ursprünglich der Amateurgedanke. Man sagte: Ich mache das nicht als Beruf – und habe dies auch nicht nötig –, sondern in meiner Freizeit.

Wann wurde das »Turnen« zum »Sport«?

Ganz klar lässt sich das nicht sagen. Sicherlich hatte die Industrialisierung, die in England ihren Anfang nahm, viel damit zu tun. Der Aufbruch in die Leistungsgesellschaft spiegelte sich im Sport wider. Aber auch in meiner Kindheit in den 1970er Jahren hieß es noch Turn- und nicht Sportunterricht. Bis heute werden die Begriffe manchmal synonym verwendet. Daran sieht man: Die beiden Traditionen haben sich vermischt. Insgesamt hat sich das Gewicht aber immer mehr in Richtung Sport verschoben.

Also haben politische und gesellschaftliche Entwicklungen starken Einfluss auf den Sport?

Ja. Eine Veränderung in der Gesellschaft wirkt sich immer auch auf den Sport aus. Deshalb ist Sportgeschichte nicht separat zu betrachten, sondern als Teil der gesamten Geschichte. Sportgeschichte bedeutet immer auch Politikgeschichte, Medizingeschichte, Diplomatiegeschichte, Körpergeschichte, Sozialgeschichte. Sport ist überall in der Gesellschaft präsent.

»Die Arbeiter sollten selbstbewusst werden und ihren Körper für den Klassenkampf stählen«

Die Arbeiter sollten selbstbewusst werden und ihren Körper für den Klassenkampf stählen. Hätten Sie dafür noch ein Beispiel?

Ein gutes Beispiel ist die Weimarer Republik. Da hat vieles parallel existiert: Es gab bürgerliche Sport- und Turnvereine und die Arbeitersportbewegung. Diejenigen, die es sich eigentlich nicht leisten konnten, taten sich zusammen und sagten: Wir wollen auch unseren Sport treiben. In der Weimarer Republik konnten sich die Proletarier erstmals kulturell entfalten: Es gab Arbeitertheater und -bibliotheken, eine proletarische Kultur. Und ein Teil davon waren ebendiese Arbeiterturn- und Arbeitersportvereine. Deren Mitgliedsbeiträge waren niedriger und die Bedingungen so, dass auch der Arbeiter oder das Dienstmädchen teilnehmen konnten.

Verfolgten deren Anführer auch politische Ziele?

Natürlich. So wie Turnvater Jahn wollte, dass seine Zöglinge ein nationales Bewusstsein entwickelten, so wollten die Vorstände der Arbeiterturn- und -sportvereine – allesamt Sozialisten – ein proletarisches Bewusstsein wecken. Die Arbeiter sollten selbstbewusst werden und ihren Körper für den Klassenkampf stählen. Ob das jedem Einzelnen wichtig war, der da seine Turnübungen gemacht hat, wage ich zu bezweifeln. Viele haben sich vermutlich einfach nur gefreut, dass sie jetzt auch mitmachen konnten.

»Legendär ist der Handgranaten-Weitwurf«

Im Grunde diente der Sport aber der Kriegsvorbereitung?

So weit würde ich nicht gehen. Er sollte der politischen Befreiung dienen, wehrhaft machen. Doch vor allem auf eine körperlich-geistige Weise, wobei viele Turner dann auch als Freiwillige in die Befreiungskriege zogen. Das hatte aber noch nicht den staatlich-militärischen Zugriff auf den Sport, wie man ihn in den deutschen Diktaturen fand.

Zum Beispiel im Dritten Reich?

Ja. Der Leistungssport im Nationalsozialismus war eng mit dem Soldatentum verknüpft. In den Schulen gab es während des Dritten Reichs mehr Sportstunden. Und auch in der DDR wurde das Sporttreiben militarisiert: Die Armee betrieb eigene Sportklubs. Geradezu legendär ist der »Handgranaten-Weitwurf«: Er war Teil des Sportunterrichts an DDR-Schulen.

»Die Olympischen Spiele waren eine Bühne für Ost gegen West«

Kann man Sport nicht auch nutzen, um Krieg zu vermeiden? Stichwort: Brot und Spiele?

Ich kenne kein Beispiel für einen Krieg, der durch Sport verhindert worden wäre. Doch ebenso wenig einen, der durch Sport ausgelöst wurde. Man darf die Bedeutung des Sports hier auch nicht überschätzen. Er besitzt eine klassische Stellvertreterfunktion. Das war vor allem im Kalten Krieg zu sehen. Die Olympischen Spiele zu dieser Zeit, also zwischen 1948 und 1988, waren eine Bühne für Ost gegen West: Die Bundesrepublik Deutschland kämpfte gegen die DDR, die Sowjetunion gegen die USA. Interessanterweise hat der Osten dabei besser abgeschnitten. Seit 1968 fiel die Medaillenbilanz der DDR immer besser aus als die der Bundesrepublik, was Letztere sehr geärgert hat. Das war eine Art Prestigekrieg und gleichzeitig – vielleicht gerade deshalb – eine Hochphase des Leistungssports. Aber man kann nicht so weit gehen zu sagen: Dadurch, dass sich USA und UdSSR im Eishockey bekämpften, wurde ein heißer Krieg vermieden.

Waren die Sportler aus der DDR vielleicht nur wegen des Dopings besser? Man hat von regelrechten Menschenversuchen gehört.

Nein, das war nur einer von mehreren Faktoren, wenn auch ein wichtiger. Denn das Doping war staatlich organisiert und damit sehr effizient. Aber auch insgesamt hat die DDR den Spitzensport so stark gefördert, wie es nur eine Diktatur tun kann. Damit kein Talent durchs Netz rutscht, wurden alle Kinder gewogen und vermessen und in die richtigen Sportarten geschleust. »Einheitliche Sichtung und Auswahl« hieß das. Es gab Sportinternate, wo die Talente herangezogen wurden. Außerdem war die gesamte Sportlandschaft in Sport 1 und 2 unterteilt. Sport 1 waren die medaillenintensiven Sportarten wie Schwimmen, Leichtathletik oder Radfahren, wo ein Athlet mehrere Medaillen holen kann. Diese wurden primär gefördert. Teamsportarten wie Wasserball oder Basketball, wo bestenfalls eine Medaille herausspringt, bekamen deutlich weniger Geld. Die DDR hat konsequent rationalisiert, und es hat sich ausgezahlt. Das geht aber natürlich nur bei einem autoritär geführten Staat.

Welche Bedeutung hat der Sport heute im wiedervereinigten Deutschland?

Man muss zwischen Breiten- und Spitzensport unterscheiden. Diejenigen, die in ihrer Freizeit Sport treiben, tun das in erster Linie, um sich fit zu halten und weil sie Freude daran haben. Spitzensportler verdienen ihr Geld damit. Interessanterweise obliegt die Förderung des Breitensports in Deutschland den Ländern, die des Spitzensports dagegen dem Bund. Es ist immer noch so, dass Medaillen als Beweis für die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft gelten. Das wird heute nicht mehr so offen ausgesprochen, doch wenn man genau in die Förderrichtlinien schaut, steckt dieser Grundgedanke immer noch darin.

Ist das in anderen Ländern genauso?

Ja. Das ist ein Gedanke, der Demokratien und Diktaturen auf der ganzen Welt verbindet. Alle fördern den Spitzensport mit nicht unerheblichen Mitteln, weil sie als Nation und als Staat glänzen wollen. Die Olympischen Spiele sind eine sehr anschauliche Art und Weise, Überlegenheit zu demonstrieren. In Kunst oder Literatur ist das deutlich schwieriger, da ist Leistung nicht so deutlich messbar.

Wie lässt sich Muskelkater vermeiden? Wie viel sollten Sportler trinken? Diesen und weiteren Fragen widmet sich die Biochemikerin Annika Röcker in ihrer Kolumne »In Bestform«. Mit Expertinnen und Experten aus der Sportmedizin diskutiert sie, was beim Sport im Körper vorgeht und wie ein gesundes Training aussieht.

Olympia ist also wichtig für die Weltpolitik?

Es ist fraglich, ob Olympia noch dieselbe Bedeutung hat wie früher. Denn es gerät immer stärker in Konkurrenz zu anderen Werten wie Umweltfreundlichkeit. Während der Fußball seit den 1990er Jahren einen Boom in Sachen Popularität erlebt hat, stagniert das Interesse an olympischen Wettbewerben. Das Internationale Olympische Komitee hatte in den vergangenen Jahren große Probleme, überhaupt noch Austragungsstätten zu finden. Für die Olympischen Sommerspiele 2032 gab es nur einen einzigen Bewerber: die australische Stadt Brisbane. Wenn man die Bürger abstimmen lässt, zeigt sich: Sie haben kaum noch Interesse daran.

Warum?

Weil es, so wird argumentiert, zu viel Geld kostet und nicht nachhaltig ist. Andererseits schwärmen viele Münchner noch heute von den Spielen, die dort 1972 stattgefunden haben. Ein Teil der städtischen Infrastruktur – unter anderem Linien des U-Bahn-Netzes und der Olympiapark – ist während dieser Zeit entstanden. Die Spiele brachten einen Modernisierungsschub. Heute ist das leider nicht mehr so. Eine Studie zur Nachhaltigkeit der Olympischen Spiele von 1992 und 2020 kommt zu dem Schluss, dass der Trend ganz klar nach unten weist.

Wie hat sich der Sport an sich verändert?

Alles ist viel kommerzieller geworden, vor allem der Fußball. Maßgeblichen Anteil daran trägt ein Gerichtsurteil aus dem Jahr 1995: Darin wurde die Obergrenze für ausländische Spieler in den Teams aufgehoben. In Windeseile wurden die Fußballmannschaften sehr international, und die Gehälter sind durch die Decke gegangen. Parallel kam das Privatfernsehen auf und bot neue Werbeflächen. So hat sich das alles gegenseitig verstärkt. Die 1990er Jahre brachten endgültig die Globalisierung im Sport.

Und der Freizeitsport?

Der hat sich stark individualisiert: Man ist nicht mehr unbedingt im Verein, viele joggen lieber allein durch den Wald, fahren Fahrrad oder gehen ins Fitnessstudio. Interessanterweise sind im Osten Deutschlands seit 1990 bis heute viel weniger Menschen in Sportvereinen organisiert als im Westen. Warum das so ist, muss noch gründlicher erforscht werden. Darüber wird in der Fachwelt heftig debattiert.

Die Lieblingssportarten der Deutschen

Der Spitzenverband mit den meisten Vereinsmitgliedern ist der Deutsche Fußballbund. Auch das größte Zuschauerinteresse gilt in Deutschland dem Fußball, wie eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach im Jahr 2021 ergab. Geht es allerdings um den Sport, den die Menschen selbst treiben, liegen Radfahren, Joggen, Walken und Schwimmen vorne.

Gibt es Sportarten, die früher beliebter waren als heute oder vielleicht sogar ausgestorben sind?

Direkt ausgestorben nicht. Aber auch der Sport unterliegt einer gewissen Mode. In den 1970er Jahren wurden vielerorts Trimm-dich-Pfade angelegt, um die Bevölkerung gesundheitlich auf Trab zu bringen. In den 1980er Jahren war beispielsweise Fußball bei den Zuschauern eher unbeliebt. Es gab entsetzlich viel Fangewalt, die Stadien waren verrottet, der Sport hatte ein Schmuddel-Image. Stattdessen haben ambitionierte Eltern ihre Kinder auf den Tennisplatz geschickt.

Weshalb?

Weil Steffi Graf und Boris Becker damals die Bildschirme dominiert haben. Viele Eltern dachten, ihr Kind könnte vielleicht auch so ein Talent haben. Das schlug sich in den Mitgliederzahlen der Vereine nieder, es wurden neue Tennisabteilungen und -klubs gegründet. Ähnlich war es im Boxsport: Der war relativ unpopulär bis zur Wiedervereinigung. Dann kam der Ostdeutsche Henry Maske und boxte im Privatfernsehen. Und plötzlich war Boxen als Zuschauersport wieder »in«. Es gibt immer wieder solche Konjunkturen, die durch Vorbilder entstehen.

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