Springers Einwürfe: Die Großstadt als Schmelztiegel?
Die Menschheit zieht in die Stadt. Schon heute lebt jeder und jede Zweite dort, und im Jahr 2050 werden zwei Drittel der Weltbevölkerung immer dichtere Wohnkonglomerate bilden. Nach gängiger Meinung wirkt der rapide Prozess der globalen Urbanisierung als großer Gleichmacher, der die Menschen kulturell entwurzelt und soziale Unterschiede relativiert. Könnte daraus durch die immer dichtere elektronische Vernetzung gar eine egalitäre Weltgesellschaft hervorgehen – mit einem Schlagwort des Medientheoretikers Marshall McLuhan: das globale Dorf?
Dem Mythos der kosmopolitischen Großstadt haben Informatiker und Soziologen um Hamed Nilforoshan, Wenli Looi und Emma Pierson von der Stanford University empirisch auf den Zahn gefühlt. Die anonymisierten Mobiltelefondaten von knapp zehn Millionen Nutzerinnen und Nutzern in den USA offenbarten alltägliche Verhaltensmuster.
Über das Global Positioning System GPS ließ sich zunächst feststellen, wo die Personen regelmäßig die Nacht verbrachten – das heißt ihr jeweiliger Wohnort. Der wiederum gab auf Grund der dort üblichen Miete Auskunft über den sozioökonomischen Status. Anhand der GPS-Bewegungsdaten konnten die Forscher anschließend feststellen, wie oft sich tagsüber die Wege von Personen kreuzten – und insbesondere, ob es dabei zu einer mehrere Minuten langen Begegnung zwischen sozial unterschiedlichen Menschen kam. So entstand ein statistisches Panorama der gesellschaftlichen Durchmischung in Stadt und Land.
Das verblüffende Resultat: je größer die Siedlung, desto segregierter ihre Bevölkerung. In Großstädten trafen sozial gleichartige Personen wesentlich (um 67 Prozent) häufiger zusammen als in Gebieten mit weniger als 100 000 Einwohnern. Zugespitzt bedeutet das, dass man in der Stadt viel mehr unter sich bleibt als auf dem Land.
Wie lässt sich das erklären? Offenbar bietet ein urbaner Lebensraum allein schon durch seine Größe die Möglichkeit, dauerhaft nur mit seinesgleichen zu verkehren, während man auf dem Dorf eher mit unterschiedlichen Mitmenschen konfrontiert wird: Man läuft sich, ob freiwillig oder nicht, auf der Straße, im Laden um die Ecke oder in der örtlichen Kneipe über den Weg. In der Stadt hingegen gibt es separate Viertel mit Restaurants für die besser Betuchten, wo sich nach Auskunft der GPS-Daten vorzugsweise sozial Gleichgestellte sammeln.
Freilich bieten die großen Städte durchaus Begegnungsstätten über Einkommensgrenzen hinweg an. Die Studie erwähnt Kaufhäuser als »hubs« (Drehscheiben) für – wenigstens vorübergehenden – sozialen Mix. Die für die USA typischen Malls sind tatsächlich diejenigen Orte der Großstadt, wo jeder Mensch als Kunde König ist.
In der Stanford-Studie wird seltsamerweise nichts über die Rolle des Sports gesagt. Auf Bolzplätzen, in Schwimmhallen, Fitnessklubs und großen Stadien dürfte es soziologisch bunter zugehen als sonst im abgeschotteten Alltag des Städtebewohners.
Wohlgemerkt, die Studie hat nur die Verhältnisse in den USA erforscht. Deshalb kommt beispielsweise die Rolle von öffentlichen Verkehrsmitteln als Gleichmacher nicht vor; nur am Rande wird die New Yorker U-Bahn erwähnt. Die USA sind ein Autoland. Es macht gewiss einen Unterschied, ob man allein im privaten Pkw sitzt oder ob man das Leid des Pendlers mit Schicksalsgenossen teilt, aus denen vielleicht mit der Zeit sogar Bekannte werden.
Dass Urbanisierung mit Segregation einhergeht, ist jedenfalls eine Hiobsbotschaft. Soll das Leben am Ende in einem anonymen Häusermeer stattfinden, das in ein Patchwork aus separaten Quartieren zerfällt? Dagegen steht die Vision des urbanen Zusammenlebens – eine Jahrhundertaufgabe für die Stadtplanung.
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