Springers Einwürfe: Klimawandel vor Gericht
Mehr als 2000 Frauen im Rentenalter haben beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage gegen die Schweizer Regierung erhoben: Sie habe es unterlassen, genug gegen den menschengemachten Klimawandel zu unternehmen – und folglich habe sie die Bürgerinnen und Bürger vor den gesundheitlichen Auswirkungen zu wenig geschützt.
Die »KlimaSeniorinnen Schweiz« stehen mit ihrer Initiative keineswegs allein da. Vor dem Gerichtshof in Straßburg sind ähnliche Verfahren anhängig, in denen Gruppen aus mehreren europäischen Staaten ihr Recht auf Klimaschutz einfordern. In Deutschland erklärte das Bundesverfassungsgericht das einschlägige Gesetz für teilweise verfassungswidrig, weil es den Schutz künftiger Generation vernachlässige. Und im August 2023 entschied eine Richterin in Montana, dass der US-Bundesstaat das Recht der teils blutjungen Klägerinnen und Kläger auf eine gesunde Umwelt verletze.
Vor allem dieser letztere, in jahrelangem Gerichtsstreit errungene Erfolg war den Schweizerinnen – ungeachtet des Altersunterschieds – eine Lehre, denn er beruht auf der konsequenten Begleitung durch renommierte Umweltforscher.
Auch in der Schweiz bildeten sich mehr als 20 Gruppen von Akademikern aus den Bereichen Klima, Gesundheit, Wirtschaft und Jurisprudenz, die als amici curiae (»Freunde des Gerichts«) Gutachten beisteuern. An der Universität Bern kam ein hochkarätiges Team um die Spezialistin für Umweltrecht Charlotte E. Blattner zusammen.
Die Schweizerinnen stützen ihre Klage insbesondere auf die wissenschaftlich begründbare Aussage, dass 60 Prozent der heimischen Hitzetoten des Jahres 2022 auf den menschengemachten Klimawandel zurückzuführen sind – und dass mehr als die Hälfte Frauen im Rentenalter waren.
Wenn man die rund 1500 seit 2015 weltweit zum Thema Klimaschutz angestrengten Verfahren zum Vergleich heranzieht, dann stehen die Erfolgsaussichten der Seniorinnen fifty-fifty. In jedem zweiten Fall war es nicht gelungen, das jeweilige Gericht von seiner Zuständigkeit zu überzeugen, oder mit Argumenten zu reüssieren, die aus dem Klimawandel justiziable Folgen für Einzelpersonen ableiten.
Die Schwierigkeit, ein globales Menschheitsproblem in individuelles Menschenrecht zu übersetzen, hat etwas mit der notorischen Tragik der Allmende (englisch: tragedy of the commons) zu tun: Warum soll ich den Müll aufsammeln, den die anderen liegen lassen? Lieber warte ich als Trittbrettfahrer darauf, dass sich die Misere irgendwie löst – und sehe zu, wie die Müllberge wachsen. So ähnlich argumentieren Gerichte, wenn sie Klimaklagen abschlägig bescheiden: Die Umweltpolitik eines einzelnen Landes trage doch ohnedies wenig zur globalen Erderwärmung bei.
Auch für diese Position lassen sich akademische Befürworter finden. So hat der Wirtschaftsexperte Hans-Werner Sinn in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« die vermeintlich allzu »grüne« Energiepolitik der Bundesregierung als unsinnig kritisiert und zur Begründung die berühmten zwei Prozent ins Spiel gebracht: Nur so gering sei der Anteil Deutschlands am globalen Kohlendioxidausstoß! Erst wenn eines Tages internationale Abkommen, so Sinn, die großen Emittenten wie China, USA und Russland zum CO2-freien Wirtschaften zwängen, erfüllte eine deutsche Energiewende ihren Zweck.
Freilich lässt in der gegenwärtigen Weltlage nichts auf einen baldigen Vertrag hoffen, der so umfassend und bindend wäre wie von Sinn ausgemalt. Soll man bis dahin getrost die Hände in den Schoß legen – oder Einspruch erheben wie die Schweizerinnen?
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