Springers Einwürfe: Wie Liebe blind macht
Unter dem Gesichtspunkt des Energieaufwands erscheint die sexuelle Fortpflanzung als ein großes Verlustgeschäft. Wie viel einfacher ist doch die ungeschlechtliche Vermehrung! Von frühen Organismen Milliarden jahrelang praktiziert, erspart sie sich das Vorhalten komplementärer Fortpflanzungsorgane und die umständliche Partnersuche.
Dennoch erwies sich die Zweigeschlechtlichkeit mit der Zeit als evolutionäres Erfolgsmodell, und seither suchen Männchen, die nur das Eine wollen, nach willigen Weibchen. Mit diesem Abenteuer gehen sie hohe Risiken ein: Ihnen drohen Kämpfe – oft auf Leben und Tod – mit konkurrierenden Artgenossen, oder sie fallen unterwegs allgegenwärtigen Fressfeinden zum Opfer.
Die Abenteurer müssen also einen heiklen Zielkonflikt zwischen Selbsterhaltung und Fortpflanzungserfolg austarieren. Wer blindlings auf Sex aus ist, geht gleich zu Grunde; aber wer stets ängstlich zurückscheut, kommt nie zum Ziel.
Was da genau im Gehirn vor sich geht, hat ein Team um die Biologin Laurie Cazalé-Debat von der University of Birmingham und die Neurowissenschaftlerin Lisa Scheunemann von der Freien Universität Berlin erkundet. Als Modellorganismus diente die Taufliege Drosophila.
Wie die Forscherinnen detailliert nachwiesen, steigt, sobald Gefahr droht, in bestimmten Neuronen des Sehsystems der Serotoninspiegel, und das löst Reaktionen wie Flucht oder Totstellen aus. Hingegen erhöht sich, wenn Männchen um Partnerinnen werben, in speziellen Neuronenverbänden das Niveau des Botenstoffs Dopamin.
Nun kommt es entscheidend darauf an, wie weit zu dem Zeitpunkt, an dem das Männchen einem akuten Gefahrensignal ausgesetzt wird, die Werbung bereits fortgeschritten ist. In einem frühen Erregungsstadium ergreift der Verehrer die Flucht, doch falls er das Fortpflanzungsziel schon fast erreicht hat, blockiert der hohe Dopaminspiegel die visuelle Wahrnehmung der Gefahr komplett. Die Forscherinnen zitieren das Sprichwort: Liebe macht blind.
Der als komplexes Wechselspiel von Dopamin und Serotonin entschlüsselte hirnphysiologische Mechanismus wirkt sich, so ein Fazit der Studie, keineswegs nur bei Taufliegen aus. Er steckt in ähnlicher Weise auch bei Säugetieren hinter dem Widerstreit von Liebessehnsucht und Todesgefahr.
Selbst in der menschlichen Kultur ist der Zusammenhang von Liebe und Tod ein häufiges Thema. Der antike Dichter Ovid erzählt vom tragischen Ende des Liebespaars Pyramus und Thisbe, das Shakespeare parodistisch in seinem Sommernachtstraum rekapituliert, nur um es auch als ernstes Vorbild für die Tragödie von Romeo und Julia zu verwenden. Stets werden Liebende geschildert, die lieber in den Tod gehen, als auf ihre Liebe zu verzichten. Auch Tristan und Isolde bilden ein tragisches Paar – wobei allerdings in Richard Wagners Oper die Frau überlebt; ihr »Liebestod« ist eher eine Chiffre sexueller Erfüllung.
Das wirft die in der Forschung unterbelichtete Frage auf, was eigentlich im weiblichen Gehirn bei sexueller Aktivität vorgeht. Auch die Partnerin muss Selbsterhaltung und Paarungserfolg gegeneinander abwägen; noch dazu ist ihre Investition in die Fortpflanzung alles in allem ungleich höher. Das Bild vom aktiven Verführer, der sein passives Weibchen schwängert, ist jedenfalls unvollständig, wenn nicht grundfalsch.
Immerhin hat eine Gruppe um den Neurowissenschaftler David Anderson am California Institute of Technology die Hirntätigkeit sexuell aktiver Mäuseweibchen beobachtet. Die Forscher identifizierten dabei eine auffällige Neuronenpopulation im Hypothalamus. Sie betonen aber, dass die hirnphysiologische Entschlüsselung der weiblichen Kopulationsdynamik erst am Anfang steht.
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