Star-Bugs – die kleine-Tiere-Kolumne: Weltmeister im Weitsprung
Eigentlich ist dieser Morgen im Mai 2024 alles andere als optimal für die Insektenpirsch. Die Nacht brachte kühlen Regen und zwischen dunkelgrauen Wolken lugt die Sonne nur zögerlich hindurch. Da ist es den meisten Insekten zu kalt. Sie bleiben lieber in ihren Verstecken. Viktor Hartung ist dennoch optimistisch: »Die Käferzikade ist so häufig, es würde mich wundern, wenn wir keine finden.« Mit dem Kescher in der Hand drängt der Biologe aus seinem Büro im Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde, raus auf den kleinen Weg am Allwetterzoo vorbei. An einer flachen Ligusterhecke streicht Hartung mit dem Kescher drei-, viermal über die Zweige. Er hebt die engmaschige Gaze mit der Hand leicht an und schaut hinein. »Da haben wir schon eine«, sagt er, »eine Nymphe, wie um diese Jahreszeit zu erwarten.«
Nymphen, so nennen Fachleute die Jugendstadien einiger Insekten. Diese junge Käferzikade ist bereits im vergangenen Jahr aus einem Ei geschlüpft und hat in der Streuschicht aus altem Laub und Holzresten am Boden oder zwischen den immergrünen Blättern des Efeus überwintert. Jetzt, im Frühling, sticht sie mit ihrem kräftigen Rüssel Bäume an und saugt wie durch einen Strohhalm süßen Pflanzensaft. Fünfmal häutet sich die Zikade. Jedes Mal entsteigt sie dem alten Chitinpanzer ein kleines bisschen größer; nach der letzten Häutung ist sie ausgewachsen.
Obwohl sie so häufig ist, kennen die wenigsten Menschen Issus coleoptratus, wie die Echte Käferzikade mit wissenschaftlichem Namen heißt. Denn sie ist klein, rund sieben Millimeter misst das ausgewachsene Insekt. Zudem ist das beige-braune bis grünlich graue Tier im Blätterwerk fast unsichtbar. Dunkelbraune Adern zaubern ein marmorartiges Muster auf die Deckflügel und lassen sie wie Leder aussehen. Die Facettenaugen schimmern rötlich braun. Im Vergleich zum Kopf sind sie riesig.
Käferzikaden sind besonders: Ihre Flügel wölben sich über den gesamten Rücken. Dadurch sehen sie gedrungen aus, wie Käfer – daher ihr Name. Bei den allermeisten Arten anderer Zikadenfamilien sind die schweren Deckflügel wie ein Satteldach geformt. Darunter verstecken sich ihre weichen Hinterflügel. Die klappen die Zikaden bei Bedarf aus und heben ab. Auch in dieser Hinsicht ist die Echte Käferzikade ein Sonderfall: Sie kann gar nicht fliegen.
Verbreitet, aber unauffällig
Vom Norden bis in den Süden Deutschlands ist die Echte Käferzikade fast flächendeckend anzutreffen. Sie fehlt nur in Gegenden ab 1000 Meter Höhe. Von Mai bis Oktober, bei warmer Witterung sogar bis in den November sind erwachsene Käferzikaden unterwegs. Männchen und Weibchen unterscheiden sich nur minimal in der Aderung der Deckflügel, ein Merkmal, das lediglich Fachleute auf den ersten Blick entdecken.
In Deutschland leben zwei der weltweit rund 1500 Käferzikadenarten: neben der Echten auch die Fliegen-Käferzikade (Issus muscaeformis). Sie sieht ihrer Artverwandten zum Verwechseln ähnlich, allerdings schmückt ihre Stirn ein charakteristisches weißes Querband. Außerdem ist die Fliegen-Käferzikade in Deutschland selten.
Weltmeister im Weitsprung
Diesen scheinbaren Mangel macht sie spielend wett: Die beiden Hinterbeine der Echten Käferzikade arbeiten wie Katapulte. Kräftige Muskeln im Hinterleib des Insekts bauen einen Zug auf; die Energie speichern elastische Strukturen im Insektenkörper – gleich einem gespannten Bogen. Diese Energie entlädt sich beim Sprung schlagartig und beschleunigt die Zikade für den Bruchteil einer Sekunde auf mehr als die 700-fache Erdbeschleunigung. Zum Vergleich: Bei einem Auffahrunfall mit 50 Kilometer pro Stunde ist der Mensch kurzzeitig einer bis zu 200-fachen Erdbeschleunigung ausgesetzt. Die Folge sind meist schwere Verletzungen.
Die winzige Zikade jedoch nutzt diese Energie, um mehr als einen Meter weit zu springen, also etwa 170-fach weiter, als sie selbst lang ist. »Unter den Insekten ist die Käferzikade damit momentan Weltrekordhalter im Weitsprung«, sagt Viktor Hartung. Wer braucht da schon Flügel?
Nymphe mit Zähnen
Die Nymphen der Echten Käferzikade warten mit einer weiteren Besonderheit auf. Wo die Hinterbeine sich unter dem Hinterleib berühren, an den so genannten Schenkelringen, sitzen aufgereiht zehn bis zwölf Zähnchen. Die greifen ineinander wie die Zahnräder eines Uhrwerks. Bewegt sich das eine Hinterbein, muss das andere mit.
Derart synchronisiert behalten die Insekten beim Springen die Kontrolle und verhindern, dass sie taumeln oder sich um ihre Längsachse drehen. Sie erreichen zwar weder die Weite noch die Beschleunigung der erwachsenen Zikaden – einfach weil sie kleiner sind –, für eine gezielte Flucht vor Räubern reicht es aber allemal. Und es zeigt einmal mehr, dass die Natur Techniken erfindet, lange bevor der Mensch sie entwickelt.
Mit ihrer letzten Häutung verlieren die Zikaden die Zähne. Insektenforscher erklären das damit, dass der Mechanismus zwar genial, aber auch anfällig ist: Bricht ein Zähnchen ab, funktioniert das Zahnrad nicht mehr. Bei Nymphen ist das nicht so schlimm – mit der neuen Haut kommen wieder zwei intakte Zahnräder. Erwachsene Tiere häuten sich aber nicht mehr und könnten die Zähnchen nicht ersetzen.
Die Zikadenymphe in Viktor Hartungs mit Gaze bespanntem Kescher bleibt sitzen. Offenbar ist es zu kalt. Der Entomologe zeigt auf den Hinterleib des nur wenige Millimeter kleinen Insekts. Wie ein starrer Pinsel ragen dort weiß-bläulich schimmernde Borsten heraus. Es sind feinste Wachsnadeln, die die Insekten mit Drüsen am Körperende herstellen. »Solche Wachsstrukturen schrecken Angreifer ab«, sagt Hartung, »denn das Wachs ist zäh und schmeckt nicht so gut.«
Wie die Zahnräder verlieren die Echten Käferzikaden diese Wachsanhänge mit der fünften Häutung. Warum, weiß auch der Entomologe nicht. »Möglicherweise liegt es daran, dass gerade die jüngeren Nymphenstadien weniger aktiv sind«, vermutet er. Damit wären sie leichtere Beute als die ausgewachsenen Tiere. Zudem kämen sich bei den ausgewachsenen Zikaden unter Umständen Wachsborsten und Deckflügel in die Quere.
Ungefährliche Pflanzengäste
Vorsichtig setzt Hartung die Zikade wieder ins Gebüsch. Sowohl Nymphen als auch erwachsene Käferzikaden ernähren sich von Pflanzensäften, die die tagaktiven Tiere etwa an Eichen, Birken oder Linden saugen. Generell sind Echte Käferzikaden wenig wählerisch, was ihre Nahrung angeht. Dementsprechend leben sie in Laub- und Mischwäldern ebenso wie in Parks und Gärten. »Wenn mal ein Fenster offen steht, können Käferzikaden auch in der Wohnung landen«, sagt Hartung. Für den Menschen seien sie jedoch völlig harmlos.
Ebenso für die Pflanzen, an denen sie fressen. »Käferzikaden sind zwar häufig, treten aber nie in großen Mengen auf«, erklärt Hartung. Selbst ein Dutzend der Insekten an einem kleinen Baum schaden nicht. Bereits Ende Mai, manchmal auch erst im Juni häuten sich die Käferzikadennymphen das fünfte Mal. Dann sind sie ausgewachsen und machen sich auf Partnersuche. Die Weibchen legen Eier an Sträuchern, Gräsern oder Bäumen. Wenig später schlüpfen die jungen Nymphen und krabbeln in die Bodenstreu oder eine mit Efeu bewachsene Hecke, wo sie die kalte Jahreszeit über ausharren – bis sie im nächsten Frühling wieder sprungbereit sind.
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