Die fabelhafte Welt der Mathematik: Ein Tortendiagramm rettete abertausenden Menschen das Leben
Überall Ratten, Ungeziefer, Müll und Fäkalien, stark verwundete und teilweise schon tote Soldaten, die auf kargen Betten oder auf dem Boden liegen, ein furchtbarer Gestank und lauter Krankheiten: Diese fürchterlichen Zustände fand die Krankenschwester Florence Nightingale vor, als sie 1854 in ein Lazarett auf der Krim eintrat. Schockiert von den dortigen Verhältnissen begann sie unter anderem, Hygienevorschriften einzuführen, und wollte diese Maßnahmen auch in anderen Lazaretten umsetzen. Als Pflegekraft glaubte sie jedoch, wenig Einfluss zu haben; es fiel ihr schwer, das Militär von ihren Plänen zu überzeugen. Doch sie schaffte es schließlich – mit Hilfe von Mathematik. Und es sollte nicht das einzige Mal sein, dass Statistik dabei half, abertausende Menschenleben zu retten.
Aus heutiger Sicht fällt es schwer zu glauben, dass man an den Vorschlägen der Krankenschwester zweifeln konnte: Es erscheint nur allzu klar, dass mangelnde Hygiene zu Krankheiten führen kann – vor allem, wenn Menschen verletzt sind. Doch zu dieser Zeit gab es keine einheitlichen Vorschriften zu hygienischen Zuständen in einem Lazarett, ebenso wenig wie standardmäßig ausgebildetes Personal, das auf ein Minimum an Sauberkeit achtete. Das sollte sich durch eine statistische Analyse von Nightingale ändern.
Von klein auf war Nightingale von Zahlen und Mathematik begeistert. Es finden sich Schriften, in denen sie Buch über Einkäufe führte, über die Tiere, die sie im Zoo gesehen hatte, oder über Lebensmittel. Dabei zählte sie die einzelnen Objekte und teilte sie zudem in mehrere Kategorien auf. Das verdeutlicht ihre Vorliebe für statistische Erhebungen und Analysen.
Angst vor Statistik
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Gebiet der Statistik weder verbreitet noch besonders ausgereift. Im Gegenteil: Anfangs schienen sich die Menschen vor statistischen Aussagen zu fürchten. Das zeigt ein Zitat von Charles Dickens aus dem Buch »Hard Times«, das sich auf die Anzahl durchschnittlicher Todesfälle pro Jahr bezieht. Falls die Zahl der bisher getöteten Menschen unter dem Jahresdurchschnitt liege, müssten »vor dem letzten Tag des Jahres etwa vierzig oder fünfzig Menschen getötet werden – und sie werden getötet«, schrieb der Schriftsteller. Doch Nightingale ließ sich von solchem Irrglauben nicht entmutigen.
Als die Krankenschwester nach zwei Jahren auf der Krim in ihre Heimat zurückkehrte, verfasste sie einen ausführlichen Bericht über ihre dortige Arbeit. Und sie tat es auf die ihr vertraute Weise: Sie führte über die auf der Krim erlebten Geschehnisse Buch. Anders als in ihren Aufzeichnungen aus den Kindertagen beließ sie es nicht bei bloßen Aufzählungen. In einer für damalige Verhältnisse völlig ungewohnten Weise begann sie, die aufgezeichneten Daten zu visualisieren.
Die wohl berühmteste Darstellung sind Nightingales Tortendiagramme. Sie teilte dafür einen Kreis in zwölf gleich große Abschnitte auf. Jeder entspricht einem Monat eines Jahres. Anschließend dokumentierte sie darin die Anzahl der Toten: je größer die Fläche eines Abschnitts, desto höher die Anzahl Verstorbener. Mit einer Farbgebung unterschied sie zwischen verschiedenen Todesursachen. Blau markierte sie jene, die an einer (vermeidbaren) Krankheit gestorben waren, rot jene, die ihren Wunden erlagen, und schwarz alle anderen.
Damit ließ sich auf einen Blick erfassen, wie sich die Anzahl der verschiedenen Todesfälle über die Zeit entwickelte. Und nicht nur das – man konnte auch sofort erkennen, wie hoch der Anteil der vermeidbaren Todesfälle war. Wie sich den Grafiken entnehmen lässt, stieg die Gesamtzahl der Verstorbenen, insbesondere der blauen Kategorie, zunächst stark an, um dann wieder zu sinken. Grund für diese Entwicklung waren die von Nightingale eingeführten Hygienemaßnahmen.
Mit Mathematik überzeugen
Um diese Zeichnungen anzufertigen, benötigte Nightingale ein gewisses mathematisches Verständnis. Zunächst einmal musste sie einen Kreis in zwölf gleiche Teile aufteilen, also in verschiedene 30-Grad-Stücke. Dann musste sie einen Referenzwert festlegen, zum Beispiel: Ein Stück mit einem Radius von einem Zentimeter – und damit einer Fläche von π⁄12 Quadratzentimetern – entspricht 100 Toten. Wenn sie nun 1500 Verstorbene verzeichnen wollte, war der Radius um den Faktor √15 ≈ 3,87 zu strecken.
In der damaligen Zeit ging man noch davon aus, dass sich Krankheiten wie Cholera oder Typhus durch »schlechte Luft« verbreiten. Doch mit ihren Statistiken konnte Nightingale die britische Regierung vom Nutzen ihrer Methoden überzeugen. In den kommenden Jahren wurde im Militär geschultes medizinisches Personal eingesetzt und es wurden Hygienevorschriften eingeführt.
Die Arbeit der mathematisch begabten Forscherin beschränkte sich jedoch nicht auf den Krimkrieg. Sie erkannte, dass auch britische Soldaten außerhalb von Kriegsgebieten einem hohen gesundheitlichen Risiko ausgesetzt waren: Obwohl die Armee aus jungen, gesunden Männern bestand, wiesen sie selbst in Friedenszeiten eine doppelt so hohe Sterblichkeitsrate wie Zivilisten auf. Indem Nightingale die sanitären und hygienischen Zustände in den überfüllten Kasernen untersuchte, konnte sie die Regierung dazu bewegen, in diesem Bereich ebenfalls Änderungen einzuführen.
Manchmal wird behauptet, die Statistikerin habe die Datenvisualisierung durch Tortendiagramme erfunden. Doch tatsächlich nutzte der Brite William Playfair diese Darstellungsform bereits im Jahr 1801. Auch wenn sich seine Lebensgeschichte stark von jener von Nightingale unterscheidet, ist sie nicht minder interessant. Playfair wurde als Geheimagent in Frankreich eingesetzt, wo er die britische Regierung über die Aktivitäten der Französischen Revolution informierte und technische Gerätschaften auskundschaftete. Zudem trug er dazu bei, die französische Wirtschaft zu schwächen, indem er enorme Mengen Falschgeld in Umlauf brachte, wodurch ein Währungsverfall einsetzte.
Cholera in London
Es gibt über Nightingales Arbeit hinaus viele weitere frühe Beispiele, in denen die Visualisierung von Daten Gutes hervorbrachte. Eines davon ist die Geschichte von John Snow, einem britischen Arzt, der dabei half, Choleraausbrüche in London zu stoppen.
In den 1840er und 1850er Jahren suchten England immer wieder Choleraepidemien heim. Entgegen der verbreiteten Vorstellung glaubte Snow nicht daran, dass die Krankheit durch »schlechte Luft« verursacht werde. Er konnte seinen Verdacht aber nicht belegen, geschweige denn eine alternative Ursache nennen. Als 1854 im Londoner Stadtteil Soho mehrere Choleraerkrankungen auftraten, begann Snow die betroffenen Personen zu befragen. Er verzeichnete in einer Karte, wo die Erkrankten wohnten – und erkannte ein Muster.
Im Zentrum der Krankheitsfälle schien eine Wasserpumpe zu stehen. Das verleitete Snow zu der Annahme, dass diese die Epidemie verursachte – auch wenn er in Wasserproben der betroffenen Pumpe keine Auffälligkeiten fand. Die von ihm erstellte Karte mit den markierten Fällen genügte jedoch, um die lokalen Behörden zu überzeugen, woraufhin diese den Hebel der Pumpe abmontierten. Kurz darauf sanken die Fallzahlen erheblich.
In folgenden Arbeiten konnte Snow durch statistische Erhebungen zeigen, dass die Choleraausbrüche offenbar mit der Trinkwasserqualität zusammenhingen. In Bezirken, die stark verschmutztes Wasser aus der Themse bezogen, trat die Krankheit bis zu 14-mal häufiger auf als in Stadtvierteln mit sauberen Wasserquellen. Damit präsentierte Snow die ersten Hinweise darauf, dass Cholera nicht durch »schlechte Luft«, sondern durch verseuchtes Trinkwasser verursacht wird.
Die statistischen Analysen und visuellen Aufarbeitungen von Nightingale und Snow haben wahrscheinlich abertausenden Menschen das Leben gerettet. Selbst wenn sie durch ihre Arbeiten nicht die genauen Mechanismen von Ausbreitungen von Krankheiten durch Erreger offenlegen konnten, haben sie die moderne Epidemiologie begründet: In dieser Disziplin nutzen Fachleute Befragungen und geografische Untersuchungen, um den Verlauf von Epidemien zu beschreiben. Diese Methoden sind noch heute hochrelevant – auch wenn wir die Mechanismen hinter den Erkrankungen inzwischen gut verstehen.
Sie haben auch ein Lieblingsthema zu Mathematik und würden gerne mehr darüber in dieser Kolumne lesen? Dann schreiben Sie es mir gerne in die Kommentare!
Schreiben Sie uns!
3 Beiträge anzeigen